Die Darstellung des Unfassbaren

Nach einer fünfjährigen Schamfrist wird der amerikanische Film explizit. Der Kinostart von Oliver Stones «World Trade Center» ruft in den USA den Schrecken des 11. September in Erinnerung und erntet viel Zustimmung.

Von Tobias Jaecker, Chicago

Dunkelheit. Nur die roten Ziffern eines Digitalweckers leuchten: 3:29 Uhr. John McLoughlin, Polizist bei der New Yorker Hafenbehörde, schält sich aus dem Bett. Nach der Dusche ein letzter Blick auf die schlafende Ehefrau und die Kinder. Dann geht es im Auto in Richtung Manhattan. Stumm stehen die Türme des World Trade Center in der Morgendämmerung.

Oliver Stones Film «World Trade Center» beginnt mit einem scheinbar ganz normalen Tag. Doch jeder weiß: Dieser Tag wird schrecklich enden.

Die Angst der Unterhaltungsindustrie

Viel ist darüber geredet, geschrieben und gesendet worden, wie der 11. September 2001 die Welt verändert hat. Wie konnte es dazu kommen? Was sind die Folgen? Der unfassbare Massenmord hat bei den Amerikanern ein Trauma hinterlassen und unzählige Erklärungsversuche und politische Kontroversen zur Folge gehabt.

Nur die Unterhaltungsindustrie fasste das Thema bislang mit spitzen Fingern an. Zu frisch schienen die Wunden zu sein und zu groß die Gefahr, sich die Finger zu verbrennen.

Helden an Bord der United 93

Allmählich hat Hollywood nun mit der Aufarbeitung begonnen. Den Anfang machte im April Paul Greengrass mit seiner Darstellung der Ereignisse an Bord der «United 93». Das Flugzeug stürzte in ein Feld im US-Bundesstaat Pennsylvania, nachdem die Passagiere versucht hatten, die Hijacker zu überwältigen. Ein tragisches Ende, aber auch eine Heldengeschichte. Schließlich setzten sich hier Menschen zur Wehr.

Der Film entstand in enger Zusammenarbeit mit den Angehörigen der Opfer. Im Vorfeld wurde erhitzt darüber diskutiert, ob es nicht «zu früh» dafür sei. Als «Flug 93» dann im Kino lief, urteilten die Zuschauer überwiegend positiv.

Neue Verschwörungstheorien?

Oliver Stone wagt sich nun als Erster daran, die Flugzeug-Attacken auf das World Trade Center zu verfilmen. Er erzählt die Geschichte der Polizisten John McLoughlin und Will Jimeno (dargestellt von Nicolas Cage und Michael Pena), die am Morgen des 11. September in den ersten Turm des Hochhauses beordert und unter dem einstürzenden Gebäude begraben wurden. Sie gehörten zu den wenigen, die nach langen Stunden gerettet werden konnten.

McLoughlin und Jimeno haben Stone beraten und bei den Dreharbeiten begleitet. Doch viele waren skeptisch: Was würde Oliver Stone, der Macher von «Natural Born Killers» und «JFK», dem Publikum diesmal servieren? Einen Gewaltstreifen etwa oder neue Verschwörungstheorien?

Dramatisch aber konsistent

Chicago. Die drittgrößte Stadt der USA liegt im Mittleren Westen und gilt als amerikanischste Stadt überhaupt. Das Multiplex-Kino an der East Illinois Street ist gut besucht am Premieren-Tag. Als das Licht ausgeht, herrscht absolute Stille im großen Saal. Sie hält ganze 125 Minuten lang. Beim Abspann applaudiert das Publikum. Viele haben Tränen in den Augen. «Oliver Stone hat seinen Job gut gemacht», sagt Kathy O’Neil. «Ich hätte erwartet, dass er viel dramatischer an das Thema rangeht. Es war zwar dramatisch, aber sehr konsistent, fast ein bisschen konservativ.»

Die 42-Jährige hat den 11. September zu Hause am Fernseher erlebt und ist den ganzen Tag nicht vom Bildschirm los gekommen. «Wir waren wirklich am Ende», sagt sie. Der Film habe die Ereignisse sehr realistisch wieder ins Bewusstsein gebracht: »Es ist fühlt sich irgendwie surreal an, jetzt das Kino zu verlassen und draußen den schönen Sommerabend zu erleben.«

Is Oliver stoned?

Raymond Peters ist ebenfalls aufgewühlt. Der 35-jährige ist Kurierfahrer und hat von den Ereignissen am Telefon erfahren: Von seiner Schwester, die in Manhattan lebt. »Fast jeder dort hat Opfer oder Angehörige in seinem Bekanntenkreis«, sagt er. »Deshalb sind die Erinnerungen noch sehr präsent.« Dass sich Stone strikt an der Geschichte der beiden Polizisten orientiert, hält Peters für richtig: »Mit Erklärungen und Interpretationen kann ja später ein Anderer kommen.«

Auch die Presse ist begeistert – und reibt sich verwundert die Augen. »Is Oliver stoned?«, fragt etwa der Daily Herald. Der Boston Globe schreibt: »Das beste ist, dass der Film ganz und gar nicht wie ein Oliver-Stone-Film wirkt«. Und der konservative Filmkritiker Carl Thomas urteilt gar: »Einer der großartigsten pro-amerikanischen und fahnenschwenkenden Gott-schütze-Amerika-Filme, die jemals gezeigt wurden.«

Ein Film als Denkmal

Stone selbst sagt, er werde wohl sein Leben lang als «politisch» abgestempelt werden. Ganz unbegründet ist diese Zuschreibung nicht: Aus seiner Ablehnung der Politik der Bush-Regierung hat er nie ein Hehl gemacht. Doch Stone besteht darauf, in erster Linie Dramatiker zu sein. »Ich war immer an Menschen und ihren Geschichten interessiert.« Zwar habe jeder eine politische Meinung zum 11. September, »aber es waren Menschen dort«. Für sie solle »World Trade Center« ein »Denkmal« sein.

Das Denkmal fällt in der Tat gewaltig aus. Hautnah und aus der Perspektive der Menschen am Boden wird der Schrecken des langen Tages gezeigt: Der Blick auf das qualmende Gebäude. Der Schatten des zweiten Flugzeugs, der die Häuserschluchten verdunkelt. Der Donnerhall des zweiten Einschlags.

Nichts für Popcorn und Cola

Auf den Gesichtern ist das nackte Entsetzen zu sehen, wenn die Verzweifelten aus den Fenstern springen, blutüberströmte Passanten sich die Seele aus dem Leib schreien oder ein neuer Gebäudeteil zusammenbricht. Abwechselnd sieht man die beiden eingeschlossenen Cops, die sich gegenseitig Mut machen und am Leben erhalten – und die angsterfüllten Angehörigen, die sehnlichst auf ein Lebenszeichen warten. Dazwischen die immer gleichen Fernsehbilder: »America Under Attack«.

Nicht jeder ist für einen solchen Film bereit. Der 26-jährige Student Brian Dudek etwa sagt, er habe noch Monate nach den Anschlägen kein Flugzeug betreten. »Ich brauche so einen Streifen nicht. Für mich ist das nichts, was ich mir mit Popcorn und Cola im Kino reinziehen kann.« Dass solche Ängste kein Hirngespinst sind, machen erst jetzt wieder die vereitelten Anschläge von London deutlich. Der Terror ist eben noch längst nicht Geschichte.

Manchmal Kitsch

Die Trauma-Expertin Donna Gaffney hat einen Ratgeber zum Anschauen von Filmen wie »World Trade Center« verfasst. Sie sagt, es sei völlig in Ordnung, den Film lieber allein auf DVD oder auch gar nicht zu sehen: »Wichtig ist nur, vorher zu bedenken, welche Gefühle das Nacherleben der Bilder und Geräusche dieses Tages auslösen kann.«

Es scheint, als habe Oliver Stone eine angemessene Sprache für das sensible Thema gefunden: Nah am Stoff und fast ein wenig therapeutisch. Das kippt manchmal ins Kitschige, etwa, wenn dem verschütteten Will Jimeno im Wachtraum eine Jesus-Figur erscheint.

Zugleich ist der Film aber viel politischer, als es zunächst den Anschein hat. Denn Stone zeigt in beeindruckender Weise die Buntheit New Yorks, die vielen Menschen aus allen Teilen der Welt, die auf engstem Raum hier zusammenleben – ob Müllmänner, Prostituierte, Banker oder Cops. Und damit macht er nur allzu deutlich, was die Attentäter des 11. September wirklich zerstören wollten.

Artikel-URL: http://www.netzeitung.de/voiceofgermany/431687.html

Erschienen in: Netzeitung, 14.8.2006