Die ‚cahiers de doléances‘ von 1789 aus dem Oberelsass

Hausarbeit zum Proseminar „Die Französische Revolution“
Dozent: Daniel Schönpflug
Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaften
WS 1998/99

vorgelegt von Tobias Jaecker

Gliederung:

1. Einleitung
2. Das Elsaß vor der Revolution
3. Die cahiers de doléances
3.1 Das Cahier der Gemeinde Zellenberg
3.2 Die Forderungen gegen die privilegierten Stände
4. Fazit
5. Quellen- und Literaturverzeichnis
5.1 Verzeichnis der verwendeten Quellen
5.2 Verzeichnis der verwendeten Literatur

1. Einleitung

In vorliegender Arbeit möchte ich mich mit den cahiers de doléances aus dem Jahre 1789 auseinandersetzen. Diesen muß eine große Bedeutung zugesprochen werden, da sie als „eine völlig freie Meinungsäußerung der Nation, die erste und einzige unter dem Ancien régime, […] betrachtet“ werden können. Mit ihnen wurde erstmals eine „fast unüberschaubare Fülle von schon lange schwelenden Problemen zahlreicher Gruppen und Schichten des französischen Gemeinwesens“ sichtbar. Insbesondere möchte ich mich mit in den Cahiers offen zutage tretenden Konflikten zwischen den Ständen befassen, um der Frage nachgehen zu können, ob die Cahiers möglicherweise gar „retrospektiv als Vorwarnung des revolutionären Ausbruchs“ gewertet werden können.

Um den vorgegebenen Rahmen nicht zu überschreiten, werde ich mich auf die Analyse der Cahiers aus dem Oberelsaß und dabei insbesondere auf das Cahier der Gemeinde Zellenberg, das als durchaus typisches Beispiel für diese Gegend gelten kann, beschränken. Doch zunächst werde ich kurz auf die Entwicklung des Elsaß vor der Revolution eingehen, um die gesellschaftlichen Zustände zu realisieren. Ferner werde ich mich allgmein mit Verfassern, Form und Inhalt der Cahiers auseinandersetzen.

2. Das Elsaß vor der Revolution

1648 waren der Sundgau und die Vogtei über die zehn Reichsstädte von Frankreich annektiert worden, und bis 1697 wurde auch der größte Teil des restlichen Elsaß ins französische Staatsgebiet eingegliedert. Jedoch hatte das Elsaß eine „relativ autonome Stellung […] innerhalb der französischen Monarchie“ inne. So genoß das elsässische Wirtschaftsgebiet Sonderstatus. Da der Absatzbereich des elsässischen Handels und der Industrie größtenteils in Deutschland und der Schweiz lag, verlief die Zollgrenze weiterhin auf dem Vogesenkamm, so daß das Gebiet zollrechtlich den deutschen Gebieten gleichgestellt war.

Wie im übrigen Frankreich waren auch im Elsaß Protektionswesen und Korruption allgegenwärtig. Die Abgabenlast, vor allem der Städte, war enorm angewachsen. An der Spitze der Straßburger Verwaltung stand bereits nach unblutigem Aufstand ein demokratisch gewählter Rat, auf dem Lande hingegen bestanden bis zur Revolution die Herrenrechte fort. Stände und Ritter waren dort bis zum Ende des Ancien régime „als Rentenempfänger mit einigen öffentlichen Funktionen noch sehr angesehene und einflußreiche Leute“.

Im Sommer 1787 wurde im Rahmen der Neuordnung der Verwaltung im Königreich die elsässische Provinzialversammlung einberufen. Hier erhob sich bereits der Konflikt zwischen den Ständen auf der einen sowie ihren Untertanen und dem französischen Staat auf der anderen Seite. Diese „letzte großangelegte Reformmaßnahme des alten Frankreich“ sollte jedoch schon bald von der allgemeinen Entwicklung der Revolution überholt werden.

3. Die cahiers de doléances

Im Frühjahr 1789 lief in Frankreich das komplizierte Verfahren der Wahlen zu den Generalständen und der Abfassung der cahiers de doléances ab. Die nach Ständen unterteilten Wähler eines jeden Gerichtsbezirks, ebenso auf der unteren Ebene die Wähler einer jeden Stadt, Landgemeinde oder Zunft, gaben ihrem Delegierten ein eigenes Heft (cahier) mit, in dem die Beschwerden und Wünsche (doléances) der Wähler aufgelistet waren. Über 40.000 solcher Cahiers wurden angefertigt. Die Beschwerdeschriften der einzelnen Gemeinden wurden zu Sammelheften zusammengestellt, die den Abgeordneten in den Beratungen als Richtlinie dienen sollten. Die Cahiers des Dritten Standes wurden meist durch Advokaten abgefaßt. Nach Artikel 25 der Wahlordnung vom 24. Januar 1789 war festgelegt, daß in allen Primärversammlungen ein Richter des Ortes den Vorsitz führen sollte.

Bei der Auseinandersetzung mit den Cahiers sollte bedacht werden, daß die niedergeschriebenen Beschwerden möglicherweise mündlich in anderen Worten ausgedrückt wurden. Viele Cahiers sind zudem nach Unterpunkten gegliedert und somit neu geordnet und akzentuiert. Da besonders auf der ersten Stufe des Wahlverfahrens die Gruppe der Beamten und Juristen den größten Teil der Abgeordneten der Gemeinden stellte, ist folglich „klar, daß die Robenbürger die Volksbefragung und die Wahlen für die Generalstände auf allen Ebenen fest in ihren Händen hielten“, sie waren die „Mittler“. Die Cahiers sind demzufolge „zutiefst geprägt von einer Beamten- und Richterkultur“.

Zum Themenspektrum der Cahiers ist anzumerken, daß die der aufklärerischen Ideologie verpflichteten Beschwerden unter der Kategorie „Grundwerte und Rechte“ weder in den primären noch in den städtischen noch in den allgemeinen Cahiers der Wahlkreise 5 Prozent der Beschwerden überstiegen. 70 Prozent der Cahiers der Landgemeinden und der städtischen Körperschaften fordern weder eine Veränderung der Regierungsweise noch eine Umverteilung der Souveränität. Jedoch nehmen Forderungen dieser Art mit dem Grad der Urbanisierung des Wahlkreises zu.

Die feststellbare Kluft zwischen städtischen und ländlichen Cahiers läßt sich derart charakterisieren, daß man sich in der Stadt vor allem um seine Rechte sorgte und im Dorf um seine täglichen Bedürfnisse. Die ländlichen Cahiers sind zudem geprägt durch gegen die seigneurialen Rechte oder den Kirchenzehnt gerichtete Forderungen. Zu den „verhaßtesten Vorrechten“ zählen die seigneuriale Gerichtsbarkeit, die grundherrlichen Rechte und der Pachtzins.

Zwischen den Cahiers des Dritten Standes, des zweiten Standes und des Adels bestehen vielfältige Ähnlichkeiten, so in der gemeinsamen Forderung individueller Rechte wie der Anerkennung der Freiheit des Individuums und der Pressefreiheit. Auch die periodische Versammlung der Generalstände und das Steuerbewilligungsrecht der Stände wird in weitgehender Übereinstimmung gefordert. Auch auf dem Gebiet der sozialen Ordnung gibt es Übereinstimmung: Das Recht auf Eigentum, Steuergleichheit und sogar Abschaffung der Steuerprivilegien sind allseitig erhobene Forderungen. Beim Abstimmungsmodus in den Generalständen ergibt sich hingegen ein differenziertes Bild: Auf der Seite des Dritten Standes wird mit großer Mehrheit die Abstimmung nach Köpfen gefordert, die Adels-Cahiers fordern größtenteils eine Abstimmung nach Ständen.

Die Klagen der Cahiers des Dritten Standes erscheinen vielfach gleichförmig, so daß sich das Bild einer „unererwartete[n], eindrucksvolle[n] Übereinstimmung, die dem öffentlichen Verlangen eine unwiderstehliche Kraft verlieh“, ergibt. Die „Allianz von Bürgern und Bauern“, die sich hier bildete, konnte erst durch diese Eindeutigkeit Erfolg gegen die privilegierten Stände erlangen. Obgleich die Cahiers primär „die Klagen der großen Mehrheit der Bevölkerung über ein unerträgliches Alltagsleben“ vorbringen, sind sie doch als Dokument der politischen Radikalisierung des Sommers 1788 der „empfindliche Anzeiger der verbreiteten aufklärerischen Grundwerte und Ideen“.

3.1 Das Cahier der Gemeinde Zellenberg

Die zahlreichen elsässischen Cahiers ähneln sich in vielen Punkten. Da sich teilweise sogar die Formulierungen gleichen, muß davon ausgegangen werden, daß oftmals sogenannte Mustercahiers die Grundlage für die verabschiedete Fassung bildeten, in denen beispielhaft einige Beschwerden vorgegeben waren. Insgesamt sind die elsässischen Cahiers durch einen „konservativen Grundzug“ gekennzeichnet. So widerstrebte man in fast allen Fällen der Vorverlegung der Zollgrenzen an den Rhein, weil man dadurch den Verderb des Handels und der Schiffahrt befürchtete. Den elsässischen Sonderstatus wollte man beibehalten oder ihn gar durch Widerrufung der bisherigen Verordnungen, durch welche die elsässischen Rechte denen der inneren Provinzen angeglichen worden waren, wiederherstellen.

Das Cahier der Gemeinde Zellenberg, auf dem folgend das Hauptaugenmerk liegen soll, kann seinem Inhalt nach als repräsentativ für das Oberelsaß gelten. Zellenberg hatte im Jahre 1790 402 Einwohner und war dem Distrikt Colmar et Sélestat zugehörig. Das von 46 Bürgern am 17. März 1789 unterzeichnete Cahier ist in 35 Unterpunkte gegliedert.

Der größte Teil der Beschwerden des Cahiers betrifft die hohen Auflagen. Diese sollten künftig „auf alle stände des Staates ohne unterschid […] vertheilt werden“, Abgaben möchte man „in zukunft nur in der gesamten Reichsversammlung und durch einstimmung aller drei vereinigten Stände […] auf eine bestimmte Zeit“ festsetzen. Die „unkosten der Provintz [sollten] von jeeder classe ohne ausnahm in verhältnis ihres vermögens bestritten“ werden.

Auch die Privilegien werden angegriffen: So wird die Abschaffung der hohen Bezüge des Rates und der Miliz gefordert sowie, „mit dem tode der titularen“, der Wegfall sämtlicher Pensionen und Besoldungen. Magistratswürden sollten nicht mehr erkauft werden können. Auf den elsässischen Sonderstatus möchte man jedoch keineswegs verzichten: So soll „das Privilegium der Elsässer[,] nur vor ihre natürliche richter gezogen werden [zu] können“, bestätigt werden.

Des weiteren werden verschiedene konkrete Wünsche der Gemeinde benannt wie eine effektivere Organisation der Polizei, eine schnellere richterliche Verurteilung von Straftätern, die Verbesserung des Unterrichts für die Jugend, die Vereinheitlichung von Maß und Gewicht oder eine gerechtere Verteilung der Kosten am Unterhalt der Landstraßen.

3.2 Die Forderungen gegen die privilegierten Stände

Das Cahier der Gemeinde Zellenberg beinhaltet jedoch auch einige gegen die bestehende Gesellschaftsordnung gerichteten Forderungen. So wird die Festsetzung von Provinzialständen verlangt, deren Mitglieder „von den verschiedenen Ständen der Provintz nach den jetzt stattfindenden formen der Provincial Versammlung gantz frey erwöhlt werden dürfen, blos nachdem die bürger zu jemanden das meiste vertrauen haben werden“. Ebenso wird die Aufrechterhaltung oder, wo noch nicht geschehen, die Einrichtung von Gemeinderäten gefordert.

Weitreichend ist die Forderung, „daß der bürgerstand unter dem militaire zu allen stellen gelangen solle“ und daß alle Ämter, die bis dahin von den Herrschaften vergeben wurden, nun „durch mehrheit der stimmen der bürgerschafft erwöhlt werden“ sollten. Die weitestgehende Forderung richtet sich gegen die privilegierten Stände. Danach soll die Anzahl der Stimmen des Dritten Standes auf den Reichsversammlungen die Hälfte der Gesamtanzahl der Stimmen ausmachen.

In diesem Punkt geht die Gemeinde Zellenberg um einiges weiter als viele andere elsässische Gemeinden. Zwar beinhaltet der Abschnitt noch nicht die Forderung der Abstimmung nach Köpfen, wie sie beispielsweise in den Cahiers von Dornach oder Sierentz erhoben wird. Auch sollte bedacht werden, daß der Dritte Stand in der Praxis oftmals Adelige zu Abgeordneten wählte, die dann nicht selten mit dem Adel und gegen die Interessen des dritten Standes stimmten. Und doch ist die Forderung nach Stimmengleichheit eindeutig gegen die Interessen der privilegierten Stände gerichtet, das Verlangen nach Gleichstellung wird klar ausgedrückt. Zusammen mit der Forderung nach Abschaffung der Privilegien ergibt sich so ein eindrucksvolles Zeugnis der Unzufriedenheit mit der ungerechten Gesellschaftsordnung unter dem Ancien régime.

4. Fazit

Die Analyse des Cahiers der Gemeinde Zellenberg hat beispielhaft gezeigt, daß sich die politische Wunschlage um 1789 „anders, komplizierter, differenzierter darstellte, als es allzu schematische Vorstellungen von der Drei-Stände-Ordnung und von dem Ab- und Aufstieg von Klassen erwarten lassen“. So wurde die bestehende Ständeordnung nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Neben den Beschwerdepunkten, die individuelle Probleme vor Ort betrafen, wurde vor allem die drückende Abgabenlast angeprangert; freilich auch die zahlreichen Privilegien des Ersten und Zweiten Standes. Hier treten die ungerechten gesellschaftlichen Zustände am Ende des Ancien régime besonders plastisch vor Augen. Die geforderten Einschnitte in die Sonderrechte der privilegierten Stände sind jedoch radikal: Das Ende der inflationären Ämtervergabe und die gleiche steuerliche Belastung der Klassen würden nicht unbedeutende Veränderungen zur Folge haben. Das Ideal der Gleichheit tritt an dieser Stelle deutlich zum Vorschein.

Große Bedeutung hat auch die Forderung nach Gleichstellung der Zahl der Abgeordneten des Dritten Standes mit denjenigen der beiden privilegierten Stände in der Reichsversammlung. Denkt man diese Forderung konsequent zu Ende, die ja trotz aller erwähnten Einschränkungen auf eine Entmachtung der privilegierten Stände hinausläuft, so tritt die Erwartung der Bürger nach radikalen Veränderungen bereits deutlich zutage. Das Ereignis der Französischen Revolution mag deshalb nicht mehr ganz so stark überraschen.

5. Quellen- und Literaturverzeichnis

5.1 Verzeichnis der verwendeten Quellen

Herrmann, August: Neue Urkunden zur Geschichte der großen Revolution im Elsaß (cahiers de doléances), in: Elsässische Monatsschrift für Geschichte und Volkskunde 3 (1912).

Pelzer, Erich: Les cahiers de plaintes et doléances de la haute-alsace 1789. (Publications de la société savante d’Alsace et des regions de l’est), Guebwiller 1993.

5.2 Verzeichnis der verwendeten Literatur

Chartier, Roger: Kulturelle Ebenen und Verbreitung der Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts: die cahiers des doléances von 1789, in: Gumbrecht, Hans Ulrich / Reichardt, Rolf / Schleich, Thomas: Sozialgeschichte der Aufklärung, München 1981, S. 171-199.

Hartmann, Eric: La Revolution Franç aise en Alsace et en Lorraine, Paris 1990.

Hinrichs, Ernst: Ancien Régime und Revolution, in: Schröder, Hans-Christoph / Metzger, Hans-Dieter: Aspekte der Französischen Revolution, Darmstadt 1992, S. 9-36.

Lautemann, Wolfgang / Schlenke, Manfred (Hrsg.): Geschichte in Quellen: Amerikanische und Französische Revolution, München 1981, S. 147-156.

Michelet, Jules: Geschichte der Französischen Revolution. Buch 1: Die Ursachen der Revolution und die Ereignisse des Jahres 1789. (Hrsg. v. Jochen Köhler, übers. v. Richard Kühn), Frankfurt am Main 1988.

Palmer, Robert R.: Die demokratische Revolution in der Französischen Revolution, in: Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Die Französische Revolution, Köln 1976, S. 158-180.

Pelzer, Erich: Die französische Revolutionspropaganda am Oberrhein (1789-1799), in: Mühleisen, Hans-Otto (Hrsg.): Die Französische Revolution und der deutsche Südwesten, München 1989, S. 165-182.

Schmitt, Eberhard: Repraesentatio in toto und repraesentatio singulariter, in: Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Die Französische Revolution. Anlässe und langfristige Ursachen, Darmstadt 1973, S. 408-463.

Spahn, Martin: Elsaß-Lothringen, Berlin 1919.

Stählin, Karl: Politische und kulturelle Geschichte Elsaß-Lothringens, München 1920.

Ulbrich, Claudia: Rheingrenze, Revolten und Französische Revolution, in: Rödel, Volker (Hrsg.): Die Französische Revolution und die Oberrheinlande, Sigmaringen 1991, S. 223-244.

Weis, Eberhard: Frankreich von 1661 bis 1789, in: Schieder, Theodor: Handbuch der Europäischen Geschichte. Band 4: Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, Stuttgart 1968, S. 164-303.