Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik

Edgar Jung und die „Konservative Revolution“

Hausarbeit zum Proseminar „Die Auflösung der Weimarer Republik“
Dozent: Dr. Daniel Koerfer
Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaften
SS 1998

vorgelegt von Tobias Jaecker

Gliederung:

1. Einleitung
2. Die Weimarer Republik
2.1 Verfassung und Staatsaufbau
2.2 Das Verhältnis der Bevölkerung zum Staat
3. Die „Konservative Revolution“
4. Edgar Julius Jung
4.1 Die Entfaltung der konservativen Ideologie
4.1.1 Das Menschenbild
4.1.2 Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft
4.2 Das Staatsverständnis
4.2.1 Die Kritik an der Weimarer Demokratie
4.2.2 Der ideologische Entwurf eines zukünftigen Staates
4.3 Praktische Politik
4.3.1 Der Kampf gegen Weimar
4.3.2 Das Verhältnis zum NS und die „Marburger Rede“
5. Fazit
6. Literatur- und Quellenverzeichnis

1. Einleitung

Das Scheitern der Weimarer Demokratie ist nicht nur dem Aufstieg des Nationalsozialismus zu verantworten. Gleich diesem waren die unterschiedlichsten antidemokratischen Strömungen bemüht, die Weimarer Republik zu bekämpfen und zu demontieren.

Eine bedeutende Strömung stellen dabei die konservativen Revolutionäre dar. Die Wortschöpfung „Konservative Revolution“ wurde erstmals 1921 von Thomas Mann verwendet. Zwei Jahre darauf stellte Moeller van den Bruck die Begriffe „konservativ“ und „revolutionär“ im Sinne ihrer geistigen Synthese nebeneinander. 1927 sprachen sowohl Hugo von Hoffmannsthal als auch Edgar Jung von der Konservativen Revolution. Jung bezeichnet damit den Prozeß der Erneuerung des gesamten geistigen und gesellschaftlich-politischen Lebens nach konservativen Richtlinien. Die „Revolution“ faßt er dabei vor allem als „Mittel zur Realisierung einer konservativen Ordnung“ auf.

In der vorliegenden Arbeit möchte ich Theorie und Praxis Konservativen Revolution exemplarisch am Beispiel Edgar Julius Jungs untersuchen. Jung war vor allem auf geisiger Ebene einer der führenden Köpfe dieser Bewegung. Zudem war er einer der wenigen, die nach der nationalsozialistischen Machtübernahme den NS und Hitler verhältnismäßig offen kritisierten. Insofern scheint es besonders interessant, Jungs Wirken im Dritten Reich bis zu seiner Hinrichtung 1934 vor der Folie seiner vor allem im Hauptwerk „Die Herrschaft der Minderwertigen“ ausführlich dargelegten Weltanschauung zu betrachten.

Nach einer kurzen Darstellung der Weimarer Rahmenbedingungen sowie der Konservativen Revolution werde ich mich also weitgehend auf die Bearbeitung von Jungs Werden und Wollen beschränken, um den gebotenen Rahmen nicht allzu sehr zu überschreiten und doch mit der nötigen Tiefe arbeiten zu können. Bei der Auseinandersetzung mit der konservativ-revolutionären Weltanschauung Jungs als „Ideologie“ werde ich mich vor allem auf die ausführliche Analyse Bernhard Jenschkes stützen. Ein Hauptaugenmerk soll schließlich der von Franz von Papen gehaltenen Marburger Rede, dem wohl bedeutendsten Werk Jungs, gelten.

2. Die Weimarer Republik

2.1 Verfassung und Staatsaufbau

Die Weimarer Demokratie entstand im Augenblick der Niederlage des Ersten Weltkriegs. Um einen tragfähigen Waffenstillstand zu erreichen, hatte General Ludendorff, der Führer der Obersten Heeresleitung, die Neubildung der Reichsregierung unter maßgeblicher Beteiligung des „Interfraktionellen Ausschusses“ verlangt. Diese neue Regierung sollte einen Frieden aushandeln. Gleichzeitig wurde so aber auch die Verantwortung für die Kriegsniederlage auf einen bequemen Sündenbock abgeladen. Die Voraussetzung für die Dolchstoßlegende war geschaffen.

Mit der Änderung der Reichsverfassung, der Verwandlung des Reiches vom halbabsolutistischen Obrigkeitsstaat in eine parlamentarische Demokratie, wurden die deutschen Verfassungsverhältnisse revolutioniert. Die am 11. August 1919 in Kraft getretene Weimarer Verfassung beruhte auf dem Grundsatz der Volkssouveränität. Das Volk sollte durch den in allgemeiner, gleicher, geheimer und unmittelbarer Wahl zustande gekommenen Reichstag regieren. Die Reichsregierung war von dem Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten abhängig. Dem für vier Jahre gewählten Reichstag stand das Gesetzgebungsrecht zu. Er konnte zwischenzeitlich nur vom Reichspräsidenten aufgelöst werden.

Besondere Rechte wurden in der Verfassung dem Reichspräsidenten zugewiesen, der vom Vertrauen des Reichstages unabhängig war und und jeweils auf sieben Jahre unmittelbar vom Volk gewählt wurde. Der Reichspräsident ernannte Reichskanzler und Reichsminister und konnte diese auch entlassen. Er hatte ferner das Recht, den Reichstag aufzulösen und war berechtigt, als Oberbefehlshaber der Reichswehr den Belagerungszustand über das ganze Reichsgebiet zu verhängen und in Fällen des Staatsnotstandes vorübergehend Verfassungsrecht der Bürger ganz oder teilweise außer Kraft zu setzen. Dadurch, daß er eine solch starke Gegenmacht zum Parlament bildete, wurde der Reichspräsident faktisch zum „Ersatzkaiser“.

Die Weimarer Reichsverfassung, in die sowohl Gedanken des Freiherrn vom Stein als auch Verfassungsentwürfe der Frankfurter Paulskirche von 1848 eingeflossen waren, sollte in ihrem toleranten Geist den Bürgerkrieg in Deutschland beenden und ein Friedensvertrag zwischen allen politischen Gruppen in dem neuen Staat sein. Sie sollte auch den abseits stehenden Kräften im deutschen Volk den Weg in ein neues, republikanisches Deutschland öffnen. Und doch – kaum war die Verfassung in Kraft, da „hatte die Republik bereits eine beachtliche Menge von Feinden“.

2.2 Das Verhältnis der Bevölkerung zum Staat

Bereits in ihren Anfängen war die Weimarer Republik im Innern geprägt durch die Schwäche der die Republik tragenden Parteien sowie von bürgerkriegsähnlichen Aufständen linksrevolutionärer Gruppen, die eine sozialistische Räterepublik anstrebten. Anfang der zwanziger Jahre erschütterten dann zunehmend Angriffe von rechts die Republik. Durch die Anerkennung der deutschen Alleinschuld am Krieg mit dem Versailler Vertrag herrschte das Gefühl vor, einem ungerechten Gewaltakt wehrlos ausgeliefert zu sein. Viele Menschen verbanden die neue europäische Friedensordnung mit dem ebenfalls neu geschaffenen demokratischen Staatswesen. Wer also innenpolitisch zur Mäßigung aufrief, war von vornherein mit dem Makel der Schwäche, wenn nicht des Verrats behaftet.

Da es nach den Reichstagswahlen von 1920 nicht mehr möglich war, eine mit parlamentarischer Rückendeckung arbeitende Regierung zu bilden, konnte fortan keine entschieden demokratische Politik mehr vollzogen werden. Die Machtverhältnisse waren derart instabil, daß die Republik sechzehn Reichsregierungen erlebte, durchschnittlich alle achteinhalb Monate eine neue. Dies führte fast zwangsläufig zu Vorurteilen gegenüber jeder Form von „Parteienherrschaft“. Durch die Schwäche der gemäßigten Regierungen neigten viele Wähler extremen Parteien zu, die autoritäre Machtausübung versprachen: Ein „Teufelskreis“, der kaum durchbrochen werden konnte.

Das Problem war die „Macht vor- oder antidemokratischer Gefühle – und die Ohnmacht der Demokraten“. Die Einsatzbereitschaft der Arbeiterschaft für den demokratischen Staat war beispielsweise direkt mit den sozialen Wohltaten verbunden, die dieser zu verteilen hatte. In Zeiten der sinkenden Reallöhne und hohen Arbeitslosigkeit vor allem gegen Ende der Zwanziger Jahre war es daher schnell vorbei mit der demokratischen Loyalität, und die Zuneigung zu extremistischen Parteien wuchs an. Den Besitzenden und Unternehmern dagegen blieb der Weimarer Staat wegen seiner Umverteilungspolitik zugunsten der sozial Schwachen suspekt.

Auch die bürgerliche Mittelschicht lehnte den demokratischen Staat weitgehend ab. Viele Menschen, die durch die Inflation faktisch „enteignet“ worden waren, lebten in einem permanenten Krisenbewußtsein und öffneten sich gegenüber antidemokratischer Propaganda: Für die wirtschaftliche Katastrophe wurden in aller Regel Demokratie und Republik verantwortlich gemacht. In der Mittelschicht hatten daher vor allem diejenigen Gruppierungen Erfolg, die sozialen und politischen Protest mit der „Verheißung einer Gemeinschaft ohne innere Spannungen“, die gleichwohl ihre hergebrachten Rangunterschiede beibehalten würde, verbanden. Selbst die Beamtenschaft hatte ihre Schwierigkeiten mit dem Gegenwartsstaat: Für eine große Mehrzahl unter ihnen waren Monarchismus und konservative Staatsauffassung „selbstverständliche Standeskennzeichen“.

Auch unter den Intellektuellen waren extreme Ansichten vorherrschend. Linken Intellektuellen schien die bestehende Republik „kompromißlerisch, unfertig, langweilig und bürgerlich“ zu sein, daher stritt man auf dieser Seite für eine andere, sozialistische Republik. Rechte Intellektuelle hingegen waren vor allem durch das Kriegserlebnis geprägt. Sie vergötterten Macht und Erfolg und träumten vom Stahlgewitter, in dem der neue Mensch aus Blut und Eisen geschmiedet wurde. Viele rechte Intellektuelle bekämpften die Republik „im Namen eines unklar bleibenden soldatisch-nationalen, oft auch sozialistischen Ideals“. Durch die Ungewißheit dieser Ziele gelangten nicht wenige in das Fahrwasser Hitlers.

3. Die „Konservative Revolution“

Die politische Rechte teilte sich in verschiedene Strömungen. Mit den Nationalsozialisten, Deutsch-Völkischen, Nationalbolschewisten oder Deutsch-Nationalisten hatten die „jungen Nationalisten“ zwar vieles gemeinsam, doch unterschieden sie sich von den alten durch „ein neues Lebensgefühl, ein neues elementares Bewußtsein“. Sie waren der Überzeugung, daß der große Riß zwischen Altem und Neuem durch Generationen in allen Lagern hindurchging. Im Mittelpunkt ihrer politischen Haltung stand die Erfahrung des ersten Weltkrieges und die soziale Frage. Die demokratisch-liberale Epoche wurde entschieden abgelehnt, man war „überzeugt von der Notwendigkeit eines Volksstaates, in dem alle Teile der bisher in Klassen gespaltenen Nation ihren Platz“ hätten, ebenso von der „großen Wende der Zeiten, die das liberale, nationalstaatliche Zeitalter beendet und in eine neue Epoche mit neuen Werten, neuen Menschen und neuen politischen Institutionen führen“ würde.

Die junge nationalistische Bewegung bestand aus Vordenkern wie Ernst Jünger und anderen, die kleine Gruppen und Kreise um sich scharten. Es gab sie unter den Hochschülern, unter den Professoren, unter jungen Reichswehroffizieren, in den Frontkämpferverbänden. Ihre Gedanken taten sie in Zeitschriften, mit Gedichten und Essays kund. „Parteien-hader“ aber lehnte man ab. Die Bewegung bezeichnete sich zu einem nicht geringen Teil als eine konservative und grenzte sich damit gegenüber reaktionären Ideen ab. Der neue Konservatismus wurde zu einer „ewig menschlichen Haltung“ erhoben. Dabei konnte er „ebensowohl erhaltend wie revolutionär, schaffend wie zerstörerisch“ sein. Zudem sah er sich im Bunde mit dem Göttlichen. Das zweckgerichtete politische System sollte durch eine „Herrschaft, in der Ewigkeitswerte zur Geltung kommen“, ausgetauscht werden, diese sollte auf einer „existentiellen Substanz“ beruhen. Der so formulierte Anspruch der „Konservativen Revolution“, wie die Bewegung bald genannt wurde, war „ein gewaltiger“, sollte doch um der Erhaltung willen zum Mittel der Zerstörung gegriffen werden. Und doch stach neben dem intuitiven Sinn für das, was wirklich bevorstand, vor allem das phantastische Literatentum, der Ästhetizismus hervor. Dabei vertraten die konservativen Revolutionäre oft recht unterschiedliche Konzepte. Breuer geht gar so weit, ihnen eine gemeinsame Identität abzusprechen.

Die Konservative Revolution sollte zunächst eine deutsche Revolution sein. Sie wollte ein neues Deutschland, ein Drittes Reich schaffen, von dem dann belebende Wirkungen auf die ganze umliegende Völkerwelt ausgehen sollte. Das „Übel des modernen Staates und der modernen Zivilisation“ sollte „an seiner Wurzel“ gepackt werden. Aus der Spaltung in verschiedene Klassen sollte das von einem gemeinsamen Wertungsbewußtsein getragene Volk hervorgehen, im neuen Reich sollte sich „die Herrschaft des Politischen, verkörpert in der Autorität einer von den neuen Ideen erfüllten und vom Glauben an ihre Mission beseelten Oberschicht“ entfalten.

Viele dieser Ideen waren „Formeln“, mit denen oft genug die gegebene Realität „verkleistert“ wurde. So enthielt das Programm „zu viel Wunschdenken […], zu viel politikfremde Romantik, zu viel sektiererischen Fanatismus, zu viel Intoleranz, zu viel Verblendung“, als daß es etwas anderem hätte dienen können als der „intellektuellen Verführung“. Die Ideologie der konservativen Revolution war politikfremd, weil sie mit Idealen, Träumen, großen Worten arbeitete, nicht aber mit einer detaillierten Kenntnis der politischen Verhältnisse und der in ihnen enthaltenen Möglichkeiten.

4. Edgar Julius Jung

Edgar Julius Jung wurde am 6. März 1894 in Ludwigshafen am Rhein geboren und wuchs dort unter bürgerlichen Verhältnissen auf. Nach dem Besuch eines Gymnasiums begann Jung 1913 das Studium der Rechtswissenschaften in Lausanne. Bereits ein Jahr später wurde aus dem Studenten ein Freiwilliger des 1. Weltkriegs, den er als Frontkämpfer, ab 1916 als Leutnant der Reserve und zum Schluß als Kampfflieger an der Westfront erlebte. Der Krieg, der nach Jungs Auffassung „mit vereinten Kräften“ hätte gewonnen werden können, wurde für den späteren Ideologen zum „Schlüsselerlebnis“, ebenso wie die Niederschlagung der Münchner Räteherrschaft, an der er im Frühjahr 1919 teilnahm. Nach Kriegsende studierte Jung in Würzburg, wo er 1920 nach dem ersten Staatsexamen promovierte. Zwei Jahre darauf legte er das Assessorenexamen ab und trat in eine Zweibrückener Anwaltskanzlei ein. Die Heirat folgte noch im selben Jahr.

Bereits ab 1919 war Jung in der Deutschen Volkspartei aktiv. Dort hielt er bald staatspolitische Vortragsabende, in denen er „Geist und Gehabe“ des zusammengebrochenen Wilhelminischen Reiches wie auch der neuen Republik kritisierte. Bald rückte er in die Führungsspitze der Partei auf. Jungs innenpolitische Stoßrichtung zielte vornehmlich gegen die gesamte Linke. Außenpolitisch wandte er sich vor allem gegen den Versailler Vertrag und die Franzosen. Als diese 1923 das Ruhrgebiet besetzten, wurde der „tatendurstig glühende Nationalist Jung“ im Widerstand in der Pfalz aktiv und gründete im März den geheimen „Rheinisch-Pfälzischen Kampfbund“ zur Bekämpfung der Besatzungsmaßnahmen. Auf wiederholten Reisen nach München und Berlin konnte Jung eine Reihe bedeutsamer Verbindungen zu einflußreichen Persönlichkeiten der deutschen Rechten knüpfen, so auch zu Hitler, den er jedoch als „Phantast“ beurteilte.

Nachdem der passive Widerstand im Rheinland durch die Reichsregierung beendet worden war und Separatisten die „Autonome Republik Pfalz“ proklamiert hatten, ging Jung zum Äußersten über und plante mit anderen Aktivisten ein Attentat auf die Separatistenführer, das am 9. Januar 1924 in Speyer auch gelang. Jung rechtfertigte sein Handeln im Nachhinein mit dem Grundsatz, wonach der Zweck die Mittel heilige, schließlich gehe es um die „Rettung des Lebens eines Volkes“. Ist das Attentat historisch von geringerer Bedeutung, so war es für die Persönlichkeitsentwicklung Jungs doch von entscheidender Bedeutung. Kriegserlebnis, Revolutionserlebnis und Grenzlanderlebnis waren, wie es Jung selber formulierte, die für sein späteres politisches Handeln treibenden Erfahrungen.

1924 ließ sich Jung in München als Rechtsanwalt nieder und wurde außerdem in zunehmendem Maße publizistisch tätig. Jung rückt jetzt nicht nur von der offiziellen Politik, sondern auch von deren Grundlage, dem Weimarer Staatsgefüge, ab. Seine persönliche Gefühlslage war nach wie vor „von einem stark emotional bestimmten Nationalismus bis zum Exzeß“ geprägt. 1925 wurde Jung in den Vorstand des „Deutschen Schutzbundes“, der sich die Förderung und Pflege des Auslandsdeutschtums zur Aufgabe gamacht hatte, gewählt. Schon bald verband Jung mit dem Vorsitzenden des Vereins, Karl C. von Loesch, eine enge Freundschaft. In der Berliner Motzstraße, in dem sich der Schutzbund niedergelassen hatte, residierte auch der von Moeller van den Bruck und Heinrich von Gleichen gegründete Juni-Klub und später der Herren-Klub. Jung wurde in beiden Vereinigungen Mitglied. Besonders engagierte er sich jedoch im „Volksdeutschen Klub“, dem auch Parlamentarier vom Zentrum wie Heinrich Brüning bis zur DNVP angehörten. Dort war die Pflege des über den großdeutschen Gedanken hinausgehenden volksdeutschen Ideengutes bestimmendes Thema. Am 2. Juni 1926 war Jung Mitbegründer des „Jungakademischen Klubs“ in München. Als dessen Ziel forderte Jung „die Schaffung einer deutschen Nation und eines ihr angemessenen Staates“.

In seiner Rede vor der Studentenschaft der Universität München vom 25. Februar 1926 klang schon deutlich der auf Fichte zurückgreifende Volksgedanke an. Die „organische Weltanschauung“ begriff Jung als antidemokratischen „Puls der Zeit“. Jung baute sich ein „neues politisches Ideengebäude“ auf und zog sich weitgehend aus der Welt des politischen Handelns auf das Gebiet der iedeologischen Agitation zuück, er preßte die komplexen gesellschaftlich-politischen Tatbestände unter das Schema einer neuen Weltanschauung, die „im Sinne einer Ideenpolitik als wahr gelten konnte, insofern sie sich nicht im konkreten politischen Vollzug zu erproben hatte“. Gleichzeitig unterstrich Jung die Bedeutung elitärer Minderheiten in der Politik. Er hatte sich zum konservativen Revolutionär entwickelt, der „mit Hilfe eines weltanschaulichen Programms die Einheit gleichgesinnter Kräfte auf ein revolutionäres Handeln hin herstellen“ wollte. Dieser Prozeß zeigte sich noch deutlicher in seinem grundlegenden Buch „Die Herrschaft der Minderwertigen“, das erstmals 1927 erschien und zwei Jahre später seine endgültige Fassung erhielt. Dort beschrieb er den „neuen deutschen Menschen“, der „dieses System aus seinen Wurzeln“ heben sollte. Bei der Arbeit am Buch wurde Jung durch seinen Rechtsanwaltskompagnon Otto Leibrecht, den langjährigen Freund Konrad Nußbächer und Karl C. von Loesch unterstützt. Die Veröffentlichung blieb zwar konkret politisch wirkungslos, fand aber im weltanschaulich vielgestaltigen Lager der Rechten eine gewisse zeitgenössische Resonanz. Dort wurde das Buch gar als das „große Kulturwerk der konservativen Revolution“ gefeiert. Da Jung die Notwendigkeit einer politischen Organisation jedoch verkannte, blieb die Veröffentlichung eine romantische Abstraktion von der konkreten Politik.

4.1 Die Entfaltung der konservativen Ideologie

Jung selber spricht von sich und seinen Mitstreitern als „Polititker aus Weltanschauung“. Er schafft sich einen Weltanschauungsbegriff, der einheitlichen und absoluten Anspruch erhebt. Gleichzeitig unterwirft er jedoch den individuellen Akt des Wertens der Kategorie einer historischen Notwendigkeit und spricht sich damit die Möglichkeit der eigenen subjektiven Wertung im Prinzip ab. Jungs sich absolut setzende Weltanschauung weist damit alle Merkmale einer Ideologie auf.

Jungs ideologischer Ansatz liegt im Kriegserlebnis und der Revolution als Mythos. So berichtet er von der „Qual deutscher Nachkriegsarmut“, durch die in ihm der „Drang“ gewachsen sei, nach den Ursachen und den negativen politischen Folgeerscheinungen der Niederlage zu forschen, um diese mit den geeigneten Mitteln zu beseitigen. Jung läßt bei der Aufarbeitung des Kriegserlebnisses „aus Krieg und Erlebnis ein symbolisches Gebilde“ entstehen, das er auf den politischen Kampf der Gegenwart überträgt. Er schreibt vom Krieg als einer „Abkehr von der Zivilisation“ und dem „bejahenden Streben nach schöpferischer Kultur“. Die Transzendenzerfahrung im Kriege sieht er als Offenbarung, daß der Tod nicht die endgültige Vernichtung des Lebens bedeute. Der Lebenssinn könne also nur vom überwirklichen Sein, von Gott herkommen. Diese Transzendenzerfahrung macht Jung zu einem „Grundpfeiler“ seiner Weltanschauung. Jungs Lebensbegriff ist also zutiefst antirational, seine Erkenntnismethode emotional. Begriffliche Verstandeskritik war dem nicht entgegenzusetzen.

In die vom Kriegserlebnis betroffenen Deutschen projeziert Jung ein kaum zu rechtfertigendes Sendungsbewußtsein. So beschreibt er das Gefühl der Überlegenheit und seine Erkenntnis um die „Sonderstellung des Deutschtums“. Die militärische Niederlage erklärt Jung durch die „Propaganda der westlichen Ideen“. Nachdem nun „die Begriffswelt der französischen Revolution“ das Deutschtum überwunden habe, gipfelnd in der „Übernahme fremder Staatsformen im Jahre 1919″, sei die „Beseitigung der Herrschaft der Minderwertigen, der Weimarer Demokratie“ das Gebot der Stunde. Alles den Krieg verneinende wird von Jung als zivilisatorisch dekadent mit dem Bösen schlechthin identifiziert. Bezeichnend ist sein „totaler Verlust an Wirklichkeitssinn“, der in einer „Perversion der Gefühle“ aufging. Die politische Funktionalisierung des Kriegserlebnisses im Mythos bei Jung bildete den ersten Schritt einer verhängnisvollen Ideologisierung der konservativen Politik, die „eine soziale Gliederung nach Rangordnungen mit autoritärer Führung durch eine Minderheit und unbedingte Gehorsamspflicht als Ideale einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung setzen“ wollte.

Für Jung vollzieht sich Geschichte in einem Prozeß des regelmäßigen Wechsels zweier Grundprinzipien, die den Menschen jeweils als Antriebe seiner Daseinsverwirklichung bewegen. Zum einen sind dies individualistische, verstandesbeherrschte Epochen, die seiner Meinung nach durch starke Intellektualisierung in starke innere Abhängigkeit zum Stoff geraten würden mit der Folge der Verflachung und des Materialismus. Zeiten der Gebundenheit in der Gemeinschaft zeichneten sich dagegen durch geistigen Vertiefungsdrang und Glaubensstärke aus. Jung dachte hier nicht dialektisch, sondern hing einem „Weltbild der Wiederkehr“ an. Zur Beschreibung der sich abwechselnden Gesellschaftsmodelle benutzte Jung die Begriffe „Kultur“ und „Zivilisation“. Die „Umkehr“ zur Kulturepoche sei stets dann gekommen, wenn in der zivilisatorischen Epoche deren kulturelle Wurzel abgestorben sei und als „Mangel an Lebendigkeit“ offenbar werde. Die für Jung gegenwärtig zu Ende gehende Epoche schildert er denn auch in den düstersten Farben. Massengeist und Massenwahn seien gegenwärtig, der Individualismus habe „sich selbst gerichtet“. Der Krieg dagegen mache die große „Zeitenwende“ offenbar. Er leite die „Geburt des Neuen“, die große Umkehr zu einem organischen Zeitalter ein.

Jung bedient sich auch sozialdarwinistischer Ideen. So seien moralische Erwägungen über Gerechtigkeit gegenüber der Einzelpersönlichkeit völlig „belanglos“, schließlich würden die „ganz großen Führer der Menschheit“ das Weltbild gestalten. Dabei spielt der Glaube eine bedeutende Rolle: Dieser erzeuge Kräfte, „die zur Auffrischung des Volkskörpers“ führten. Und schließlich sei die Neugestaltung des Gemeinschaftslebens „nur auf einer religiösen Grundlage möglich“. Jung sieht Religiosität ausschließlich in emotionalem Horizont und verleugnet dem Christentum so „das ihm notwendig immanente rationale Element“ und damit seinen Wesensgehalt. Zudem legitimiert Jung seine politische Ideologie mit einer sehr einseitigen Akzentuierung von Teilaspekten des christlichen Glaubens.

Der Begriff der „Konservativen Revolution“ ist bei Jung als der Prozeß der Erneuerung des gesamten geistigen und gesellschaftlich-politischen Lebens nach konservativen Richtlinien gemeint. Konservativ ist es nach Jungs Auffassung, das deutsche Volkstum auf ewig zu bewahren und rein zu halten. Dies müsse zur Grundlage jeder gesellschaftlichen, staatlichen und geistigen Entwicklung gemacht werden. Dabei müsse der Einzelne in einer „organisch gegliederten Volksgemeinschaft“ gebunden werden. Die Nation ist für Jung dagegen „staatsgeformte Masse“. Nach der abgelaufenen liberal-individualistischen Epoche sieht Jung die Revolution als reinigende Vernichtung und schöpferische Entwicklung in einem. Der außerhalb der Verfassung beschrittene Weg des Revolutionärs sei dadurch legitimiert, daß sich das „innere Rechtsbewußtsein der Nation, repräsentiert durch ihre Besten und Kräftigsten“ auch gegen den Widerstand der Mehrheit durchsetze. Nur eine Minderheit, eine revolutionäre Elite, könne „in staatliche Formen umsetzen, was uns bewegt“.

4.1.1 Das Menschenbild

Zur philosophischen Begründung seines Universalismus übernimmt Jung die begriffliche Unterscheidung der Vermögen des menschlichen Geistes in Vernunft und Verstand. Den Verstand sieht Jung als zergliederte Tätigkeit in der Welt des Stofflichen, wogegen die Vernunft das positiv konstruktive Streben des Menschen nach Einheit und Ganzheit offenbare. Dem Vermögen der Vernunft entspreche der metaphysische Trieb, der „Wesenspunkt alles Menschentums“ sei. Neben die Vernunft tritt zudem das Gefühl, beide werden zur „Ganzheit übersinnlichen Ursprungs“.

Dabei führe die metaphysische Veranlagung des Menschen notwendig zu einer Selbstbeschränkung des Verstandes und seines Erkenntnisbereiches. Dies wiederum führe „zur Einstufung des Einzelnen in ein übergeordnetes Leben.“ Aus dieser „Einsicht“ resultiert Jungs ideologischer Anti-Rationalismus und Anti-Intellektualismus. Die soziale Ganzheit wird als Quelle aller Werthaftigkeit empfunden, der einzig schöpferische Akt des Menschen ist seine Hingabe an das Ganze und zugleich Annäherung an das Göttliche. So wird die absolute Hingabe und Bindung an die Gemeinschaft zur Pflicht. Das höchste Ganze ist bei Jung das Volk mit seiner natürlichen Rangordnung, einer Hierarchie. Aus diesem Prinzip der Ungleichheit leitet Jung die dominierende Rolle herrschaftsbewußter Minderheiten und die Notwendigkeit des Führertums ab, und zugleich postuliert er, auf den Bereich des Zusammenlebens der Völker übertragen, das Sendungsbewußtsein und den Herrschaftsanspruch des deutschen Volkes.

4.1.2 Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft

Gemeinschaft besteht für Jung in der „Gesamtheit aller Bindungen, denen sich im irdischen Leben der Einzelne unterwirft“. Grundlage dieser Unterwerfung sei nicht ein freier Willensakt, sondern „die natürlich vorgefundene Tatsache des Hineingeborenseins“. Die Bindung des einzelnen Menschen an die „organische Gemeinschaft“ müsse eine seelische, nicht eine verstandesmäßige sein. Jung spricht von der „Aufspaltung“ der ursprünglich ganzheitlich bestimmten Gemeinschaft in die gegenwärtige pluralistische Gesellschaft, die er in verschiedene Gemeinschaftsformen wie religiöse Bekenntnisgemeinschaften, Kulturkreise, Volksgemeinschaften, Staatsverbände, Wirtschaftsverbindungen und Zivilisationen unterteilt. Der Staat organisiere die ursprünglich organische Gemeinschaft nur noch künstlich durch Übernahme des Kulturellen, Sozialen und des gesamten Rechtes. Daraus resultiere der „allgewaltige Staat“. Ziel müsse es nun sein, Gesellschaft und Staat wieder zu einer organischen Einheit zu vereinen.

Der organischen Gesellschaftsordnung sieht Jung das Prinzip der hierarchischen Gliederung entsprechend. Die übernommene Verantwortung des Einzelnen für die Ganzheit sei dann der Gradmesser für seine Einstufung innerhalb der jeweils gegebenen Teilgemeinschaft. Der die Gesellschaft lediglich zusammenfassende Staat solle von den im Gesellschaftsleben Aufgestiegenen, den Besten in aristokratischer Führung geführt werden.

Im Volk sieht Jung soziologisch die „stärkste gemeinschaftsbildende Kraft der Neuzeit“. Das innerste des Volkes sei durch die „Gemeinsamkeit der politischen, sozialen und kulturellen Geschichte“ bestimmt. Zugleich sei das Volk aber ein „schicksalhafter und blutgemäßer Organismus“, dessen Formelemente „Boden, Blut und Schicksal“ seien. Neben das geistige Element tritt also gleichberechtigt die Betonung der biologischen, „stamm-lichen“ Einheit durch Blut und „erdgebundene Schicksalhaftigkeit“.

Zwar spielt die Frage der Rasse bei Jung nicht solch eine bedeutende Rolle wie bei den Völkischen, doch übt sie auf ihn eine „nicht geringe Anziehungskraft aus“. So spricht er ebenso vom „Problem“ der Juden in Deutschland und von der „Tatsache wertvoller und minderwertiger Rassen“. Deutsche und Juden stellt er jedoch vornehmlich als völkischen Gegensatz gegenüber, im imaginären „jüdischen Volksgeist“ glaubt er eine starke individualistische Bestimmung zu erkennen. Dadurch aber werde „das Gebäude deutschen gesellschaftlichen Aufbaus“ unterhöhlt, im Gegenzug führe es „die Judenschaft zu ragender Höhe“. Als Maßnahme fordert Jung die Rückgängigmachung der Emanzipation der Juden als Staatsbürger, und zwar durch die „Hebung rassisch wertvoller Bestandteile des deutschen Volkes“ und die „Verhinderung minderwertigen Zustromes“.

Für Jung ist der höchste Leitgedanke des Gemeinschaftslebens die Ordnung, die mittels des Politischen hergestellt wird. Mit der totalen Einordnung des Menschen ist dessen Handeln also nur mehr der Vollzug einer historischen Notwendigkeit. Die Gleichheit und damit die Zuerkennung politischer Rechte lehnt Jung dagegen „mit allen nur erdenklichen Mitteln“ ab, ebenso das Ideal der Freiheit, da es die Ordnung der Gemeischaft angeblich störe. Deshalb definiert er den Zweck der Freiheit um als „Dienst und Pflichterfüllung gegnüber der Gemeinschaft“. Politische Freiheit dagegen führe zur Anarchie, die dann durch kollektivistische Zwangsordnung, sprich Demokratie, verhindert werde. Dementsprechend ist der politische Aufbau des Weimarer Staates für Jung das „falsch verstandene Freiheitsideal“. So stellt er „mit Hilfe einer ideologischen Prämisse die Tatsachen buchstäblich auf den Kopf“. Der demokratischen Mehrheitsentscheidung stellt Jung die Macht als wahres Instrument der Politik gegenüber. Sie sei Wille, Kraft und Vollstrecker der vorgegebenen höheren Ordnung. Der von der Gemeinschaft ausgehende Machtgebrauch ist also „in jedem Falle gerechtfertigt“, da diese ja von sich aus schon immer einen Höchstwert darstellt. In der Folge werden Macht und Gewalt „faktisch identisch und schrankenlos“.

4.2 Das Staatsverständnis

4.2.1 Die Kritik an der Weimarer Demokratie

Edgar Jung nimmt insgesamt eine vernichtende Kritik der herrschenden Gesellschaftsordnung vor und bedient sich dabei derber Schwarz-Weiß-Malerei, unbewiesener Behauptungen, Verzerrung und Übertreibung. Als Wurzel allen modernen Übels sieht Jung den Individualismus, den er als Weltanschauung der „Minderwertigen“ bezeichnet. Kennzeichen der individualistischen Intellektualität sei, daß sie statt Kultur nur noch Zivilisation hervorbringe, die mit ihrer Ich-Betonung die Gesellschaft zersetze. Auch die Wirtschaft sei „nur noch als Mittel zur Befriedigung höchsteigener Lebensbedürfnisse“ zu betrachten. Und in der Wissenschaft sei das Wissen „nur noch ein Mittel zur Durchsetzung des einzelpersönlichen Machttriebes“. Vor allem aber ist es „die Auflösung der Ordnung im Individualismus der Zivilisation“, die Jung beunruhigt.

Hauptkennzeichen der modernen Gesellschaft ist für Jung ihr Dasein als „Masse“. Daraus folgend prangert er die Urbanisierung ebenso an wie die Massenpresse, die er ablehnt, weil sie die „Verpflichtung zur Volkserziehung“ unterwandere. Der individualistische Gedanke, der staatspolitisch seinen Niedergang im Liberalismus findet, wird zum Hauptgegner Jungs, da er nicht die „Gemeinschaft als höheren Wert“ erlebe und folgerichtig auch nicht seine Wertmaßstäbe „aus dieser inneren Gebundenheit“ herzuleiten imstande sei. Da der Liberalismus die schrankenlose Freiheit zum Ziel erhebe, müsse er notwendig jede organische Gemeinschaft zerstören. Dem Liberalismus als „Weg in die Anarchie“ aber folge der „Mehrheitsabsolutismus“. Und damit ist Jung bei der Demokratie angelangt, die er ablehnt. Der allgemeine Wille könne durchaus dem Mehrheitswillen entgegengesetzt sein und trotzdem dem inneren Wesen der Gemeinschaft mehr entsprechen, als dem Einzelnen bewußt sei. In der Demokratie aber habe nur noch derjenige Freiheit, der sich des Staates bemächtige und ihn sich zu seinen Zwecken dienstbar mache.

Auch die einzelnen Instrumente der Demokratie sind für Jung unpraktikabel. So sei etwa die Gewaltenteilung hinfällig, weil das Parlament „zwischen Volk und Regierung, jeden Zusammenhang zerschneidend“, stehe. Nur eine demokratische Diktatur könne „die Berührung zwischen Führer und Volk wiederherstellen“. Auch das Recht ist nach Jung faktisch wertlos, da dieses für das Volk nicht zu verstehen und zu abstrakt sei. Die Regierenden jedoch würden durch die „Gesetzesherrschaft“ nur behindert werden. Faktisch werde der Rechtsstaat so zum Feind aller und damit zum „Gewaltstaat“.

Jungs Kritik an Liberalismus und Demokratie artikulieren sich am schärfsten in der Beschreibung des modernen Parteienstaates, den er als Höhe- und Endpunkt der individualistischen Bewegung ansieht. Die Parteien hätten sich von staatsbejahenden bürgerlichen Weltanschauungsparteien zu reinen Klassenparteien entwickelt, denen es ausschließlich um die „Benutzung des Staates für den eigenen Nutzen“ gehe. Sie seien also lediglich „private Interessenvereinigungen“. Dabei komme es zu „nackter, unverhüllter Gegensätzlichkeit“, zur „Ausübung der reinen Gewaltherrschaft“. Jung setzt die Demokratie hier also deutlich mit den üblen Methoden des Manchestertums gleich, um sie damit zu diffamieren. Zugleich spricht er dem Wähler die politische Entscheidungsfindung ab: Die Staatswillensbildung müsse „auf die gegebene Auslese wahrhaft politischer Menschen“ beschränkt werden.

4.2.2 Der ideologische Entwurf eines zukünftigen Staates

Jung entwickelt sein Bild einer zukünftigen Gesellschaftsordnung und der ihr zugrundeliegenden Prinzipien erst aus der Kritik der gegenwärtigen Zustände. Vor allem geht es ihm darum, die „überzeitlichen Wesenszüge organischer Gestaltung auf die heutigen realen Verhältnisse“ anzuwenden. Jung sieht die gesellschaftlichen Kräfte als „Teilentfaltung des Volksgeistes“, dessen „Wesenheit“ als höchste Stufe der Gemeinschaft sich im Staate manifestiere. Der Staat sei zugleich Schutzhülle und Gipfel der gegliederten Gesellschaft.

Als Glieder des organischen Staates sieht Jung die „Stände“. Damit meint er „gesell-schaftlich autonome Korporationen“ im Sinne von sozial abgegrenzten Wirkungseinheiten, die sich in den Bereichen von Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Kirche, Erziehung, Familie, Gemeinde und sozialer Fürsorge bilden. Dabei verbindet Jung „auf eigentümliche Weise traditionelle herrschaftsständische Elemente mit modernen berufsständischen Elementen“. So stellt er sich im Bereich der Wirtschaft die horizontale Zusammenfassung aller im gleichen Berufe Tätigen ebenso vor wie die als Interessenvertretungen gedachten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Die Stände sollen die beherrschende Ordnung in ihrem jeweiligen Bereich selbstverwaltet herstellen. Der eigentliche Staat sei hingegen der „Höchststand“. Ihm oblägen die mehr zusammenfassenden, „politischen“ Handlungen, gipfelnd in der Außenpolitik, deren Bestimmung die Erkämpfung und Bewahrung des „geistigen und körperlichen Lebensraumes“ des Volkes sei. Innenpolitisch vertritt Jung ein „umfassendes Deregulierungskonzept“. Der Staat solle lediglich ausgleichend auf die eigenständigen Lebenskräfte wirken und außerdem die übergeordneten Witschaftsziele festlegen, die am „Streben nach völkischer Selbstbehauptung“ orientiert sein müßten. Erneut wird hier die Konsequenz eines Universalismus deutlich, der nur Rechte der übergeordneten Gemeinschaft kannte. Als Hauptstände des geistig-kulturellen Lebens sieht Jung die Religionsgesellschaften und Kirchen sowie die wissenschaftlichen Anstalten und Erziehungsgemeinschaften an. Die eigentlich staatsbildenden Stände mit gemeinschaftsbildender Kraft sind demnach aber die auf den natürlichen Gegebenheiten der „Gemein-samkeit der Blutsbande und des räumlichen Zusammenlebens“ aufbauenden Stände, also Familie, Sippe und Stamm sowie Haus, Nachbarschaft, Gemeinde und Heimat.

Den organischen Staatsaufbau dachte sich Jung ähnlich wie die bestehende gebietskörperschaftliche Gliederung von den Gemeinden über die Kreise und Provinzen zu den Ländern, die dann das Reich als umfassenden und eigentlichen Staatsträger bilden. Das Verhältnis der Verwaltungseinheiten sollte sich gewissermaßen subsidiär gestalten. Dabei orientierte sich Jung auch am russischen Bolschewismus und am italienischen Faschismus. Bei letzterem erkannte Jung vor allem eine Übereinstimmung der syndikalistischen Bestandteile mit seiner Vorstellung der organischen Gliederung. Jung stellte drei Grundregeln der organischen Staatswillensbildung auf: Genossenschaftliche und herrschaftliche Formen sollten in der Verbindung von Wahl und Ernennung verschmelzen, mit Ausnahme einer direkten Urwahl sollten alle Wahlvorgänge indirekt sein, und die Urwahl sollte nur in kleinen ständischen Einheiten stattfinden, in denen eine gesellschaftlich-lebendige Verknüpfung zwischen Führern und Geführten bestehen könne. Diese Grundsätze ermöglichen für Jung die „wahre Demokratie“, in der die Gegensätzlichkeit zwischen Herrschenden und Beherrschten zugunsten einer größtmöglichen Identität aufgehoben ist. Die Aufhebung der Gewaltenteilung drückt sich stark in seinen Vorstellungen eines Einkammersystems aus, bei dem die politische Kammer „Obrigkeit und Volk zugleich“ sein soll, eine „Körper-schaft der organisch gewachsenen Führer“.

Die Führerfrage hatte für Jung hohe Priorität. Er spricht vom mythischen Prinzip einer herrschaftsbewußten Minderheit und hängt damit der Annahme der Unüberwindlichkeit tatsächlicher Ungleichheit, die angeblich notwendigerweise eine soziale Schichtung bewirkt, an. Die Massen hätten ein „natürliches Bedürfnis nach Anlehnung“. Der Führer könne sich zur Durchsetzung seiner Ziele „selbstverständlich“ der Machtmittel künstlerischer Leistung und Beeinflussung, kapitalistischer Beherrschung, Überredung, militärischen Zwangs und politischer Gewalt bedienen. Insgesamt sollte der wahre Staat als Höchststand der Gesellschaft eine Aristokratie im Sinne einer Herrschaft der Besten sein.

Als deutschen Gesamtstaat bezeichnet Jung das Reich als konservativ-revolutionäre Alternative zum westlichen Nationalstaatsprinzip. Als organische Reichsgliederung schwebt ihm ein „Föderalismus, der auf dem Volkstum aufbaut“, vor.

4.3 Praktische Politik

4.3.1 Der Kampf gegen Weimar

Hatte Jung mit der Formulierung seiner Weltanschauung eine feste ideologische Position bezogen, so kam er in der Hoffnung auf eine Einigung der nationalen Rechten im Geiste seiner eigenen Vorstellungen wieder zur politischen Praxis zurück. So war Jung im Herbst 1929 an der Gründung der „Volkskonservativen Vereinigung“ beteiligt, einer Abspaltung der DNVP, die 1930 auch erfolglos als Partei an den Reichstagswahlen teilnahm. Als Aufgabe sah man die „Sammlung aller konservativen Elemente“ an. Jung merkte an, der Forderung nach einer „unabhängigen, kraftvollen Regierung“ könne nur durch die neue politische Form der „Volksbewegung“ Gehör verschafft werden, die eine außerparlamentarische „Agitation“ betreibe. Einige politische Freunde Jungs sahen die NSDAP als nun führende antidemokratische Partei dagegen als einzige und vielleicht nie wiederkehrende Chance, ihre Ideen zu verwirklichen.

Der Regierung Brüning stand man zwiespältig gegenüber. Einerseits wollte man ihr die Unterstützung nicht versagen, und Jung hob lobend hervor, Brüning habe sich wie kein anderer von den „Massenbindungen“ gelöst. Andererseits sollte die Unterstützung nur als taktischer Zug der Verfolgung des großen Fernziels, der Beseitigung der Weimarer Verfassungsordnung, dienen. Dabei wäre es Jung durchaus Recht gewesen, „gewissermaßen auf dem Gesetz- und Verordnungswege eine legale Revolution herbeizuführen“. Gleichzeitig räumte Jung auch dem revolutionären Temperament Hitlers eine Chance ein, wenn diesem nur „die Loslösung von der Masse“ gelinge. Damit verkannte Jung, daß Hitlers Politik gerade auf der demagogischen Massenbeeinflussung beruhte, die Loslösung deshalb illusionär war. Hier wird erneut sein Irrtum sichtbar, auf das ideologische Gebäude einer kleinen Minderheit zu setzen, statt einen breiten Rückhalt für politische Wirksamkeit zu suchen. Zugleich zeichnet sich damit „die große romantische Fehleinschätzung“ ab, den Nationalsozialismus durch geistige Beeinflussung von außen her positiv umgestalten zu können.

Im Juni 1932 verhärtete sich Jungs Kritik am Nationalsozialismus noch einmal, jedoch in Form von mißverständlichen Differenzierungen. So trat neben die Ablehnung des „grauen-haften Kollektivismus“ seine Sympathie für die nationalsozialistische Haltung des „alles oder nichts“. Jung konnte sich als Beitrag des Nationalsozialismus zur beschworenen deutschen Revolution durchaus das „Referat Volksbewegung“ vorstellen. In jedem Falle aber gebühre ihm „das geschichtliche Verdienst, die liberale Republik liquidiert zu haben“. So wurde Jungs Kritik gewissermaßen eine „Rüge unter gleichgesinnten, aber unterschiedlich auftretenden Brüdern“. Die Ablehnung Adolf Hitlers und der NSADP war deshalb „noch lange kein Prüfstein demokratischer Gesinnung“.

Nachdem Papen an die Macht gelangt war, erhoffte sich Jung von ihm eine „revolutionäre Staatsführung“, da Papen angeblich von der Notwendigkeit überzeugt war, „seinem völkischen Gewissen den Vorrang vor dem Saldo aller Abstimmungsbilanzen zu geben“. Nun gehe es darum, die Regierung durch präsidentielle Verfassungsänderung vom parlamentarischen Mißtrauensvotum unabhängig zu machen, um sowohl die gehaßte Demokratie beseitigen zu können als auch die verachtete nationalsozialistische Konkurrenz ausschalten. Jung lernte Papen, den „Durchschnittskonservativen alten Schlages“, durch persönliche Beziehungen kennen. Alsbald machte er für ihn publizistisch Propaganda und stellte ihm sein Gedankengut zur Verfügung, das sich dann in dessen Reden niederschlug.

Im November 1932 analysierte Jung, selber in politisch aussichtsloser Situation, noch einmal die politische Lage. Hitler nannte er nun einen „schöpferischen Politiker“, der die Sprache der wirklichen Revolutionäre spreche. Dem stellte er sein geistig und menschlich unzulängliches Format gegenüber. Hitler müsse man deswegen bekämpfen und trotzdem die revolutionäre Bewegung, die er repräsentiere, bejahen. Offensichtlich ging es Jung darum, das nationale Potential revolutionärer Kräfte zur Unterstützung des konservativen Kabinetts Papen und des hinter diesem stehenden Reichspräsidenten umzuleiten. Um die Jahreswende 1933 attestierte Jung der Rechten eine „Verlustbilanz“. Die nationale Bewegung sei „uneinheitlich“ und schwanke zwischen reaktionär und revolutionär. In der Folge blieb er unablässig bemüht, der sich machtvoll ausbreitenden Bewegung gegen Weimar sein Konzept aufzudrängen.

4.3.2 Das Verhältnis zum NS und die „Marburger Rede“

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme fühlte sich Jung getrieben, über Papen alle seine Kräfte so einzusetzen, daß nach Möglichkeit nicht die Unzulänglichkeiten der Nationalsozialisten, sondern das nationale Potential der konservativen Koalitionspartner die Überhand gewann. Jung arbeitete sämtliche Reden des Märzwahlkampfes für den Vizekanzler aus. Erstmals machte er es sich zur Pflicht, genau zu differenzieren. Papen erinnerte er öffentlich an seine „riesengroße“ Verantwortung, Hitler kritisierte er wegen der von ihm verschuldeten Erhitzung der nationalen Sphäre. Außerdem beklagte er, daß „dem Schein eine größere Bedeutung zugemessen wird als dem Sein“. Er befürchtete, daß die deutsche Revolution, die unter dem Gesetz des Konservatismus angetreten sei, von einem „überhitzten Nationalismus“ ausgenutzt werde. Bei all seiner Kritik vergaß Jung je-doch, daß er kaum persönlichen Einfluß in die Machtzentren hatte. Papen, der nur „schwache politische Potenz“ besaß, überschätzte er in seiner Bedeutung maßlos.

In seiner Schrift „Sinndeutung der deutschen Revolution“ vom Herbst 1933 versuchte Jung erneut, dieser Revolution einen konservativen Stempel aufzudrücken. Dabei hielt er immer noch an Positionen fest, die sich durch die Ereignisse für den Einsichtigen eigentlich bereits gerichtet hatten. Trotzdem nahm er deutliche Unterscheidungen zwischen nationalsozialistischer Politik und konservativer Intention vor. Am überraschendsten war dabei sein neues Verständnis des Christentums, die Betonung der Freiheit des Menschen als Person und in Verbindung damit die Ablehnung des totalen Staates. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft bestimmte Jung neu, indem er den Einzelmenschen auch als „Per-son“ bezeichnete, der aus diesem Grunde „das Maß seiner Freiheit nicht einfach zugewiesen werden kann“. Sei die konservative Revolution in diesem Sinne wirklich christlich, müsse sie „vom totalen Staat absehen“. Diese Schrift Jungs war „die erste echte Distanzierung vom Nationalsozialismus“, sie weist „einen ersten Schritt auf der Rückkehr zur politischen Vernunft“ auf.

Im Juli 1933 nahm Edgar Jung an einer Tagung der katholischen Akademiker in Maria Laach teil. Dort bewies er seinen persönlichen Mut, als er in Anwesenheit hoher nationalsozialistischer Führer als einer der wenigen Widerspruch gegen die von dem anwesenden Carl Schmitt verfochtenen Totalitätsvorstellungen anmeldete und statt des totalen Staates den autoritären Ständestaat forderte. In der folgenden Zeit wurde Jung in eine schwere seelische Krise mit Selbstmordabsichten getrieben. Während einer Zeit erzwungener Ruhe muß ihm der Gedanke gekommen sein, in den aktiven Widerstand gegen Hitler zu treten und sein immer totalitärer werdendes Regime zu beseitigen. Jung verfolgte nun die Absicht, die Vizekanzlei mit ihrem jungkonservativen Mitarbeiterstab zu einer quasi oppositionellen Instanz auszubauen. Er knüpfte also weiter Beziehungen im Kreise der Bekannten aus der Klubbewegung und der nationalen Publizistik. Außerdem bekam er Verbindung zu einflußreichen westdeutschen Großindustriellen, zur katholischen Arbeiterbewegung, zu General Schleicher und der Reichswehr.

Im Februar 1934 erschien Jungs letzter großer Aufsatz, der ohne Zweifel den Prozeß seiner geistigen Wandlung beschreibt. So sieht er sich angesichts der brutalen Praxis des Nazi-Regimes genötigt, vor einem Selbstausschluß Deutschlands aus dem christlich motivierten europäischen Geist zu warnen. Dabei gelangt er zu der späten Erkenntnis, daß der westliche Humanitätsgedanke nicht liberal, sondern auch christlich sei. Zugleich erkennt er auch seine eigene diesbezügliche Fehleinschätzung in der Vergangenheit ein. Schließlich aber werden seine Worte zu einem vernichtenden Urteil über Hitler selbst, indirekt fordert er den von der „Dämonie der Macht“ getriebenen zur Umkehr auf.

Schon zu dieser Zeit trug Jung einen klaren Plan gegen Hitler in sich. Gegenüber Leopold Ziegler äußerte Jung, daß man ihn „wegknallen“ solle. Realistischer schien jedoch eine im Reich vor breitestem Publikum gehaltene Rede Papens, mit der möglicherweise eine Widerstandsaktion gegen Hitler durch den Reichspräsidenten, die Konservativen und die Reichswehr ausgelöst werden könnte. Jung wollte „retten, was noch zu retten war“. Der Plan wurde realisiert. Ursprünglich war die dann vor dem Marburger Universitätsbund am 17. Juni 1934 von Papen gehaltene Rede für eine Veranstaltung der Berliner Universität bestimmt. Inzwischen ist eindeutig bewiesen, daß Jung der alleinige Autor der Rede war. Auf Anraten seines Freundes Edmund Forschbach wurde die als Generalabrechnung mit dem Gegner gedachte Rede gedruckt, um sie später im In- und Ausland verbreiten zu können. Die in der Rede enthaltene immer noch recht freundliche Beurteilung des NS ist nach Sontheimers Auffassung vor allem als Folie für die darauf folgende scharfe Kritik zu sehen.

Jung motivierte eingangs Papens Rede damit, daß diesem durch seinen entscheidenden Anteil an der nationalsozialistischen Machtergreifung die Pflicht obläge, „eine Rechenschaft der Wahrhaftigkeit vor dem deutschen Volke abzulegen“. Nachdem die Begeisterung aber verflacht sei, komme es nun darauf an, die offene Aussprache zu führen. Gleichzeitig verweist er auf die Unfreiheit der Presse: Diese sei in „ventillosem Zustand“ und versäume es, die Regierung darüber zu unterrichten, „wo gegen den Geist der deutschen Revolution gesündigt wird“. Deutlich verweist er dann darauf, daß die Umwertung aller Werte von den „parteimäßig nicht gebundenen Besten unseres Volkes […], die den Weg des Umschwungs über eine Massenpartei scheuten“, geistig vorbereitet worden sei. Damit meint er die Konservativen. Die Geschichte habe jedoch der nationalsozialistischen Taktik, den Weg der Demokratie zu Ende zu gehen, recht gegeben. Nun müsse sich ein echter Politiker aber zum „Vorkämpfer“ für das geschichtlich gebotene Handeln machen. Die zweite Forderung richtet sich mit einem Zitat aus „Mein Kampf“ eindeutig an Hitler selbst: Obwohl die Zeitenwende eine totale sei, könne der Staatsmann und Politiker nur den Staat reformieren, aber nicht das Leben selbst. „Nicht alles Leben kann organisiert werden, weil man es sonst mechanisiert“.

Im Anschluß definiert Papen die „Gegenrevolution“ des 20. Jahrhunderts als eine konservative in dem Sinne, „als sie nicht rationalisiert und auflöst, sondern alles Leben wieder unter die natürlichen Gesetze der Ordnung stellt“. Die politische Schlußfolgerung daraus zielt auf eine „natürliche soziale Ordnung, die dem Kampf um die Herrschaft ein Ende macht“. Zugleich fordert er ein „Herrschaftsprinzip aus höherer Verantwortung und übernatürlicher Dauer“ und erhebt damit die „kaum verschleierte Forderung nach einer Restauration der Monarchie“. Den Nationalsozialismus greift er nun frontal an: Voraussetzung für einen solchen gegliederten Staat sei es, zu verhindern, „daß ein Stand aufsteht, sich des Staates bemächtigt und für sich den Totalitätsanspruch erhebt“.

Sodann fordert er die Stifung einer neuen sozialen Ordnung, die auf organisch ständischen Formen beruht und die nur zeitbedingte Notwendigkeit einer „direkten Demokratie“ ablösen solle. Auch die Vorherrschaft einer einzigen Partei stelle nur einen Übergangszustand dar. In Zukunft müsse die „Freiwilligkeit aller Volksteile“ maßgebend sein. Gegen den überlebten liberalen Kosmopolitismus wird das „völkische Erwachen“ gesetzt, „jene fast metaphysische Rückbesinnung auf die eigenen Blutsquellen, die geistigen Wurzeln, die gemeinsame Geschichte und den Lebensraum“. Der Staatstotalitarismus, der kein gewachsenes Eigenleben anerkennen könne, müsse freiwillig preisgegeben werden, um die verloren gegangene Trennung von Volkstum und Staat zurückzugewinnen. Diese Revolutionsinterpretation steht zwar noch eindeutig auf den konservativ-revolutionären antidemokratischen Grundlagen, setzt aber doch klar erkennbare Akzente der Distanzierung von den Nazis. In diesem Sinne kommt Papen auf das Verhältnis zum Christentum zu sprechen. So kritisiert er indirekt das „Sektierertum“ und den „halbreligiösen Materialismus“, spricht offen von der Idolatrie des Staates und verteidigt den „Widerstand der christlicher Kreise gegen staatliche und parteiliche Eingriffe in die Kirche“.

Die Kluft zwischen „dem geistigen Wollen und der täglichen Praxis der deutschen Revolution“ erfordere nun den „ganzen schweren und großen Entschluß des wahren Staatsmannes“. Sodann wird vor einem neuen „Klassenkampf unter anderen Feldzeichen“, vor einer „Verwechslung von Vitalität und Brutalität“ gewarnt: Das Geistige dürfe nicht mit dem Schlagwort „Intellektualismus“ abgetan werden, entscheidend seien menschliche Bewährung und Leistung. Dem Staat seien biologische und psychologische Grenzen der Erziehung gesetzt. „Zwang endet schließlich an dem Selbstbehauptungswillen der echten Persönlichkeit“. Das wahre Wesen des korrupten nationalsozialistischen Systems wird entlarvt, wenn es weiter heißt, daß sich „Eigennutz, Charakterlosigkeit, Unwahrhaftigkeit, Unritterlichkeit und Anmaßung unter dem Deckmantel der deutschen Revolution“ ausbreiten wollten. Der „reiche Schatz an Vertrauen, den ihr das deutsche Volk schenkte“, sei bedroht. Und doch, lenkt Papen ein, müsse das nicht enden wollende „Gerede von der zweiten Welle der Revolution“ ein Ende haben, „kein Volk kann sich den ewigen Aufstand von unten leisten“. Der abschließende Satz seiner Rede klingt wie eine prophetische Warnung: „Die Geschichte wartet auf uns, aber nur dann, wenn wir uns ihrer als würdig erweisen“.

Mit seiner Rückbesinnung auf die Humanität hatte Edgar Jung das Schema der Ideologisierung verlassen. Dies wirkte aber tödlich, da die inzwischen zur Macht gelangte Ideologie von ihrem absoluten Wahrheitsanspruch rücksichtslos Gebrauch machte. Über die Resonanz der Marburger Rede, Jungs „Vermächtnis“, berichtet Forschbach, daß ihr Erfolg trotz des sofort von Goebbels verhängten Verbreitungsverbotes „ungeheuer“ war. Ihre Wirkung verpuffte jedoch politisch ins Leere, da Papen Hitler zwar mit Konsequenzen drohte, sich von diesem jedoch hinhalten ließ. Stattdessen schlug Hitler zu. Auf seine Veranlassung wurde Jung, der bereits eine Flucht ins Ausland erwägt hatte, am 25. Juni 1934 verhaftet. Papen flog sofort nach Berlin, um bei Hitler und Göring zu protestieren, doch diese waren angeblich „unerreichbar“. Himmler stellte Papen nun Jungs baldige Entlassung in Aussicht, und Papen ließ sich erneut hinhalten. In der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1934 wurde Edgar Julius Jung schließlich in Zusammenhang mit den Ereignissen des Röhmputsches in einem Wäldchen bei Oranienburg erschossen. Sein Tod ist „tragisches Symbol des Scheiterns einer Ideologie, aber zugleich auch Zeugnis für Jungs persönlichen Mut, der neu in den Blick gekommenen Wahrheit standhaft zu folgen“.

5. Fazit

Edgar Julius Jung gebührt ohne Zweifel große Anerkennung für seine offene Kritik am nationalsozialistischen Regime. Jung war einer der wenigen, der die Konsequenz seiner Überzeugungen nicht scheute und zum äußerst Machbaren überging. Dies wurde durch seinen Tod auf tragische Weise bestraft. So notwendig es aber ist, sich das harte Schicksal Jungs wie auch mancher anderer der führenden Antidemokraten nach 1933 zu vergegenwärtigen, „so unrichtig wäre es andererseits, allein das Verhalten während des Dritten Reiches zum Maßstab der Beurteilung zu machen“ , um mit Sontheimer zu sprechen.

Es ist alles andere als rühmlich, wie Edgar Jung politische Forderungen zu erheben, die auf eine neue Ordnung der Gesellschaft hinauslaufen, und sich dann auf eine von aller politischer Wirklichkeit losgelöste Freiheit und Unverbindlichkeit des Geistes zu berufen. So zeigte sich plötzlich mit aller Brutalität die Konsequenz der Ideen, als der ungeliebte Nationalsozialismus an die Macht kam. Denn dieser war zwar nicht notwendiges Endergebnis des revolutionären Konservatismus, aber immerhin eine „inhärente Gefahr“. Der totale Staat, der den ursprünglichen Wunschträumen Jungs zumindest näher kam als die Weimarer Demokratie, wandte sich nun gegen ihn selber.

Die Erkenntnis, „unbewußter Wegbereiter des Nationalsozialismus“ gewesen zu sein, muß Jungs halbe geistige Wendung in den ersten Monaten der Machtergreifung ausgelöst haben, als er die NSDAP auf den Geist der Konservativen Revolution verpflichten wollte. Doch Jung erkannte auch im Angesichte der totalitären Praxis bis zuletzt nicht die einzig gebotene politische Konsequenz, nämlich die Sicherung der Freiheit und Gleichheit im Sinne der Gerechtigkeit in den wirksamen Kontrollinstanzen eines demokratisch-parla-mentarischen Regierungssystems, das zur Basis die unumstößliche Anerkennung von Menschen- und Freiheitsrechten für jedermann hat.

Sein autoritärer Hoheitsstaat war keine echte Alternative zum Nationalsozialsimus. Der ideologische Charakter seines Denkens, das den Menschen ungefragt in jedem Falle der Gemeinschaft unterordnet, war verheerend. Das Bild des „neuen Menschen“, der durch die Allmacht des Gefühls der praktischen Vernunft beraubt war, konnte konsequenterweise nur ein undemokratisches Staatsmodell hervorbringen. War der Kampf gegen die Demokratie, so „ungewöhnlich wirr“ er auch war, die ideologische Zielsetzung Jungs, so fand sich dieser Kampf schließlich mit brutaler Deutlichkeit in allen Elementen des neuen Staates, der mit dem „Trugbild der gleichen Menschenrechte“ endgültig Schluß machen wollte, „aufs anschaulichste konkretisiert“. So bleibt der Mord an Edgar Julius Jung mit dem Blick auf die stets mögliche ideologische Versuchung, der alles Geistige ausgesetzt ist, ein mahnendes Signum.

6. Literatur- und Quellenverzeichnis

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