Die hartnäckigste Lügengeschichte der Welt

„Die Protokolle der Weisen von Zion“ gelten als Mutter aller Verschwörungstheorien. Der letzte Comic des Großmeisters Will Eisner erzählt die Geschichte dieser erfundenen Hetzschrift. Und davon, warum ihr immer wieder geglaubt wird.

Von Tobias Jaecker

„Alle liberalen, kapitalistischen, sozialistischen Bewegungen werden von den Juden gesteuert … wir müssen sie entlarven“, sagt der Presse-Beauftragte der russischen orthodoxen Kirche zu seinem Mitarbeiter Matjew Golowinski. „Unser Volk glaubt alles Negative über die Juden! Legen sie los, Junge!“

Szenen einer Fälschung – aus der 140-jährigen Geschichte der wohl folgenreichsten antisemitischen Hetzschrift, der fiktiven „Protokolle der Weisen von Zion“. Gezeichnet von Will Eisner, dem großen amerikanischen Comic-Meister, der kurz nach Vollendung der Arbeit im Januar dieses Jahres im Alter von 87 Jahren gestorben ist.

Die Mutter aller Verschwörungstheorien

Eisner hat sich viel vorgenommen. Und mit seinem Werk „Das Komplott. Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion“ ein kleines Kunststück vollbracht. Denn die Entstehungsgeschichte der „Protokolle“ ist äußerst kompliziert, und ihre Verbreitung hält bis heute an.

Die „Mutter aller Verschwörungstheorien“ basiert auf einer satirischen Streitschrift gegen das autoritäre Regime Napoleons III., die der französische Schriftsteller Maurice Joly 1864 in Brüssel veröffentlichte. Darin wird ein fiktiver Dialog zwischen Montesquieu und Machiavelli über Liberalismus und Despotie geschildert.

Stand der Welteroberung

Weiter führt die Spur nach Paris. Dort beauftragt Pjotr Ratschkowski von der russischen Geheimpolizei den Fälscher Matjew Golowinski mit der Herstellung eines Pamphlets, das den wankelmütigen Zaren von der Verabscheuungswürdigkeit der Modernisierung überzeugen soll. Golowinski hatte sich schließlich mit antisemitischer Propaganda bereits einen Namen gemacht.

Er nimmt Jolys Satire zur Vorlage und baut den Text zu einer jüdischen Verschwörung um – fertig sind die „Protokolle der Weisen von Zion“. 1905 erscheinen sie erstmals in einem Buch des russischen Mystikers Sergej Nilus. In den „Protokollen“ wird ein angebliches Treffen von zwölf Vertretern „der Juden“ geschildert, die über den Stand der Welteroberung beraten.

Jüdische Weltherrschaft in hundert Jahren

Das Pamphlet suggeriert, die Juden wollten die Völker durch liberale Ideen und einen sündhaften Lebenswandel infiltrieren, damit diese das Christentum und die Monarchie in Frage stellen. Die neuen sozialen und politischen Entwicklungen wie die Französische Revolution seien ausnahmslos das Werk eines großen jüdischen Plans.

Die alte Ordnung solle endgültig zerstört und durch die Plutokratie, die Geldherrschaft, ersetzt werden. Durch die Einführung der Goldwährung, die Errichtung von Präsidialsystemen, die Kontrolle von Wirtschaft und Presse sowie durch die gleichmäßige Unterstützung der Parteien sollten die Staaten unterwandert, gegeneinander aufgehetzt und in Kriege gestürzt werden. In hundert Jahren werde der Plan einer jüdischen Weltherrschaft verwirklicht sein.

Geschichte des Hasses

Die Geschichte ist kaum zu glauben. Und gerade deshalb so erfolgreich. Denn ob gesellschaftliche Modernisierung oder Revolutionen – sämtliche beängstigenden oder schlicht unverstandenen Vorgänge werden äußerst geschickt den verhassten Juden in die Schuhe geschoben. So ist auch zu erklären, warum die „Protokolle“ gleichsam zu einer Bibel des Verschwörungsdenkens werden konnten.

Ihre Aussagen finden sich bis heute in nahezu allen Verschwörungstheorien. Will Eisner hat diese Geschichte des Irrsinns und des Hasses in grandiosen Schwarzweißbildern festgehalten. Faszinierend, beängstigend. Vor allem aber: Erhellend. Denn Eisner zeigt, wie die „Protokolle“ immer wieder auftauchen, geringfügig verändert und angepasst an die jeweilige Zeit.

Protokolle als Seifenoper

1919 werden sie erstmals in Deutschland veröffentlicht. Der Herausgeber Gottfried zur Beek setzt die „Weisen von Zion“ in seinem Vorwort mit den Delegierten des Baseler Zionistenkongresses gleich. Vom NS-Chefideologen Alfred Rosenberg werden die „Protokolle“ ebenfalls publiziert. Auch der amerikanische Automagnat Henry Ford greift in seinem Bestseller „Der internationale Jude“ von 1922 auf die antisemitische Legende zurück.

Die „Protokolle“ erscheinen in Frankreich und Argentinien, ja sogar in Indien. Noch heute werden sie überall auf der Welt verbreitet. In den arabischen Ländern dienen sie der Hetze gegen Israel, in Syrien und Ägypten wurden sie kürzlich in populären Seifenopfern im staatlichen Fernsehen adaptiert. Selbst auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse waren die „Protokolle der Weisen von Zion“ erhältlich, am Stand des Iran.

Die Gojim nicht kränken

Die „Protokolle“ sind also nicht totzukriegen. Und das, obwohl es zahlreiche Widerlegungen gab. 1921 werden sie von der „Times“ als große Lüge entlarvt, 1935 bezeichnet sie ein Berner Gericht als Fälschung und „Schundliteratur“, 1964 kommt eine Untersuchung des amerikanischen Senats zu einem ähnlichen Ergebnis. Ohne nennenswerte Auswirkungen. „Die ‚Protokolle‘ könnten gefälscht sein, aber sie sagen genau das, was die Juden denken, und müssen daher als authentisch angesehen werden“, beschreibt Umberto Eco in seinem Vorwort zu Eisners Buch den Mechanismus ihrer Rezeption.

Zwanzig Jahre lang hat sich Will Eisner mit der Frage beschäftigt, wie diese Lüge bekämpft werden kann. Eisner, aufgewachsen als Sohn jüdisch-amerikanischer Einwanderer in der New Yorker Bronx, erlebte Diskriminierung am eigenen Leib. Seine Eltern rieten ihm, er solle „still sein und die Gojim nicht kränken“, schreibt Eisner.

Offensiv gegen die Propaganda

Doch er wollte das nicht hinnehmen, sondern begann sich „für die Wege zu interessieren, auf denen Antisemiten ihre Botschaft vermittelten.“ In den vierziger und fünfziger Jahren wird Eisner durch seinen wöchentlichen „Spirit“-Comic über einen gebrochenen Superhelden einem Millionenpublikum bekannt. Er lässt sich vom Film inspirieren und setzt neuartige gestalterische Mittel wie ineinander verschränkte Bildsequenzen, Schatten und ungewöhnliche Blickwinkel ein. Den Comic definiert er als „sequentielle Kunst“, in der Bild und Text perfekt verschmelzen. Für seine Erzählweise prägt er den Begriff der „graphic novel“, des gezeichneten Romans.

Zwar hätten bereits Dutzende Wissenschaftler die wahre Geschichte der „Protokolle“ aufgedeckt, so Eisner. Das grafische Erzählen biete ihm aber die Möglichkeit, ein viel breiteres Publikum zu erreichen und „dieser Propaganda auf leicht zugängliche Art und Weise offensiv zu begegnen“. Dass er an einen Erfolg des Vorhabens dennoch nicht so recht glauben mochte, wird auf den letzten Seiten seines Buches deutlich.

Verleumdung und Hass statt Wahrheit

Da bringt sich Eisner selbst ins Spiel: Ein alter Mann mit Hornbrille, Hut und Aktentasche, recherchierend in Bibliotheken und diskutierend im Expertenkreis. Ein ums andere mal hofft er, dass das Ende der „Protokolle“ nun doch endgültig gekommen sein müsse. Bis das nächste Kapitel beginnt und die Hydra erneut ihr Haupt erhebt.

Der amerikanische Filmemacher Marc Levin hat mit seinem jüngsten Dokumentarfilm „Protocols of Zion“ ein ähnliches Projekt verfolgt. Levin geht auf die Straße, dorthin, wo die Lüge am eifrigsten kolportiert wird, und konfrontiert selbst die wirrsten Antisemiten mit der Widersprüchlichkeit ihrer Ansichten.

So dass es kaum zu fassen ist, dass eine solche Hetze überhaupt noch ernsthaft geglaubt wird. Auch Will Eisner kann dieses Phänomen nicht auflösen. Kein Wunder: Bei den „Protokollen“ geht es nicht um Wahrheit, sondern um Verleumdung und Hass. Das aber hat der Meister ganz hervorragend in Bilder gefasst.

Will Eisner: Das Komplott. Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion, DVA 2005, 152 Seiten, 19,90 Euro

Artikel-URL: http://www.netzeitung.de/voiceofgermany/366798.html

Erschienen in: Netzeiung, 9.11.2005