Der neue, alte Judenhass

Nach der Berliner Antisemitismus-Konferenz der OSZE: Europa nimmt die neue Konjunktur des Judenhasses allmählich zur Kenntnis und sagt dem Antisemitismus den Kampf an. Ob den guten Vorsätzen Taten folgen werden, bleibt aber fraglich.

Von Tobias Jaecker

Deutschland im Jahre 2003: In Berlin wird ein Mann mit Davidstern-Kette als «Drecksjude» beschimpft, bespuckt und zusammengeschlagen. Ein Hamburger «Palästina-Solidaritätsbündnis» ruft zum Boykott israelischer Waren auf – «bis zum Ende der Besatzung und Apartheid». Ein großes deutsches Wochenmagazin bezeichnet den stellvertretenden amerikanischen Außenminister Paul Wolfowitz als «Strippenzieher» hinter dem Irak-Krieg. Wolfowitz vertrete «als amerikanischer Jude eine stark pro-israelische Haltung» und strebe eine Neuordnung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens an.

Drei Varianten des gegenwärtigen Antisemitismus: Handfeste Gewalt gegen Juden, als «Kritik» getarnter Antiisraelismus und schließlich die seit dem 11. September 2001 wieder auflebende Verschwörungstheorie eines angeblichen jüdisch-amerikanischen Weltherrschaftsstrebens. Drei von unzähligen Beispielen für antijüdische Ressentiments.

Antisemitismus in Einwanderermilieus

Laut dem Antisemitismus-Forscher Werner Bergmann verzeichnet die Wissenschaft erstmals seit einem halben Jahrhundert wieder eine signifikante Zunahme antisemitischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Einer Umfrage der amerikanischen Bürgerrechtsorganisation «Anti-Defamation League» (ADL) zufolge denkt heute jeder dritte Deutsche antisemitisch. Dass der Antisemitismus so virulent ist wie schon lange nicht mehr, belegt auch eine Studie, die jüngst vom Wiener Zentrum zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der EU (EUMC) vorgelegt wurde. In Deutschland, Belgien, Frankreich und Großbritannien gibt es demnach eine deutliche Zunahme physischer Übergriffe. In Ländern wie Österreich und Griechenland werden antisemitische Äußerungen immer populärer.

Die neue Welle des Judenhasses in Europa wurde bis vor kurzem noch heruntergeredet oder gar geleugnet. So verkündete der EU-Chefdiplomat Javier Solana im Mai 2002: «Mir ist davon nichts bekannt.» Das EUMC hielt monatelang eine vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung angefertigte länderübergreifende Studie unter Verschluss, in der der Antisemitismus in islamischen Einwanderermilieus thematisiert wurde.

Große Medienaufmerksamkeit

Vor diesem Hintergrund wurde es allseits begrüßt, dass die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) dem Phänomen des Antisemitismus eine eigene große Konferenz widmete. Und dazu noch in Berlin – der Stadt, in der vor über sechzig Jahren die Vernichtung der europäischen Juden geplant wurde. Unter den Teilnehmern befanden sich derart prominente Gäste wie US-Außenminister Colin Powell, Israels Staatspräsident Moshe Katzav und der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel.

Für die nötige Medienaufmerksamkeit war also gesorgt. Wo der Antisemitismus anfängt und was dagegen zu tun ist, blieb unter den rund 600 OSZE-Delegierten sowie den zahlreichen Vertretern von Nicht-Regierungsorganisationen allerdings heftig umstritten. Dass der rechtsextremistische Radau-Antisemitismus mit allen Mitteln bekämpft werden muss und dass Hasstiraden im Internet keine Chance haben dürfen, sind wohlfeile Forderungen. Auf der Konferenz wurden sie allzu oft gestellt. Besonders einfallsreich sind sie freilich nicht. Ebenso wie der zweifellos berechtigte Ruf nach verstärkten Bildungsmaßnahmen.

Vom Rechtsextremismus zum Islamismus

Wie aber begegnet man dem so genannten «neuen Antisemitismus», der sich inhaltlich nach wie vor der alten Stereotype Verschwörung, Macht, Gefährlichkeit, Rachsucht, Zusammenhalt und Zersetzungskraft bedient? Wie geht man mit dem Judenhass junger moslemischer Einwanderer um, der sich besonders radikal zum Beispiel in Frankreich entlädt? Was entgegnet man dem Antisemitismus der Globalisierungskritiker, welche die weltweiten Auswüchse des Kapitalismus immer wieder auf Israel und die USA projizieren?

Belege für die zunehmende Relevanz dieses «neuen» Antisemitismus gibt es zu Genüge. Das Stephen Roth Institute in Tel Aviv etwa sammelt kontinuierlich Informationen über antisemitische Vorfälle in aller Welt und wertet diese auf seiner Internet-Seite aus. Direktor Roni Stauber berichtete, dass der manifeste Antisemitismus noch vor zehn Jahren in erster Linie auf das Konto der Rechtsextremisten gegangen sei. Heute habe man es aber in vierzig Prozent der Fälle mit der Straßengewalt radikaler Islamisten zu tun.

Bronfman kritisiert Parteilichkeit

Abraham Cooper vom Simon Wiesenthal Center beklagte, seit der UN-Konferenz gegen Rassismus im südafrikanischen Durban 2001, auf der darüber beraten worden war, Israel als rassistischen Apartheidsstaat zu verurteilen, habe der Antisemitismus eine neue Qualität erhalten. «Seit Durban kann man Antirassist und Antisemit gleichzeitig sein.»

Als die israelische Armee im April 2002 in das palästinensische Flüchtlingslager Dschenin einrückte, erhielt dieser «neue» Antisemitismus weiteren Auftrieb. In den Medien war von «Nazi-Methoden» die Rede, von «Massakern» und hunderten von Toten. Vorschnelle und falsche Behauptungen, wie eine internationale Untersuchungskommission später feststellte. Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, kritisierte, dass sich Europa bei der jüngsten Eskalation des Nahost-Konflikts größtenteils auf die Seite der Palästinenser gestellt habe. Vorherrschend sei eine brisante Mischung aus alten Vorurteilen und mangelndem Verständnis für die gefährdete Existenz des israelischen Staates. Die Israelis würden pauschal zu Tätern gemacht, die Palästinenser dagegen zu Opfern.

Doch ist nicht jede Israel-Kritik als Antisemitismus zu werten, wie immer wieder gebetsmühlenartig versichert wurde. Der israelische Minister für Jerusalem und die Diaspora, Nathan Sharansky, machte in diesem Zusammenhang einen praktikabel erscheinenden Vorschlag. Zur Unterscheidung zwischen legitimer Israel-Kritik und Antisemitismus schlug er einen «Drei-D-Test» vor. Wo Israel dämonisiert, mit doppeltem Maßstab gemessen oder als Staat delegitimiert werde, liege Antisemitismus vor.

Medien gegen Israel und USA

In einer «Berliner Erklärung» verständigten sich die versammelten OSZE-Vertreter schließlich auf eine Verurteilung des Antisemitismus «in allen seinen Formen». Übergriffe gegen Juden sollen zukünftig systematisch erfasst und an das OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte in Warschau gemeldet werden. Vor konkreteren Erklärungen und Maßnahmen schreckte man zurück. Ob den guten Worten wirksame Taten folgen werden, bleibt daher fraglich.

Anetta Kahane von der antirassistischen Amadeu-Antonio-Stiftung bezeichnete es als «inkonsequent, dass die hasserfüllte und einseitige Berichterstattung vieler Medien über Israel und die USA» auf der Konferenz kaum thematisiert worden sei. Andere NGO-Vertreter kritisierten, dass man sich fast ausschließlich auf den rechtsextremistischen und gewalttätigen Antisemitismus fokussiert und damit vor einer klaren Benennung der Ressentiments in der Mehrheitsgesellschaft herumgedrückt habe.

Ein Konferenzteilnehmer merkte an, dass der Präsident des mit Bundesmitteln geförderten Orient-Instituts in Hamburg, Udo Steinbach, bereits vor einem Jahr den Kampf palästinensischer Terroristen mit dem Aufstand jüdischer Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto verglichen haben. Mit dieser Täter-Opfer-Umkehr habe Steinbach die rote Linie deutlich überschritten – «und niemand aus dem deutschen Establishment hat bislang etwas dagegen unternommen.»

Artikel-URL: http://www.netzeitung.de/voiceofgermany/284317.html

Erschienen in: Netzeitung, 30.4.2004