Lustbetont und egoistisch

Die studentische Protestkultur ist auf dem Nullpunkt. Wer auf dem Arbeitsmarkt bestehen will, braucht kurze Studienzeiten, viele Praktika, Bestnoten. Da sinkt der Elan, auf die Straße zu gehen

Von Tobias Jaecker 

Berlin im Herbst 1997: Der Sozialabbau erreicht neue Höhen. Studiengebühren sind längst eingeführt. Bibliotheken und ganze Studiengänge werden kaputtgespart. Und – es regt sich nicht ein Schimmer von Protest.

Das war vor einem Jahr noch anders. Als erstmals „Einschreibgebühren“ erhoben werden sollten, gingen zahlreiche Berliner Studenten auf die Straße, um gegen die praktizierte Bildungspolitik zu protestieren. Kaum wurde die staatliche Abzockerei jedoch im Herbst gerichtlich abgesegnet, verstummte der Protest restlos.

„Ich habe die hundert Mark noch kurz vor Ablauf der Frist bezahlt“, erinnert sich der vierundzwanzigjährige Jurastudent Ingo. Er sieht den momentanen Stillstand pessimistisch: „Jeder backt sein eigenes Brot und versucht, möglichst wenig Zeit an der Uni zu verbringen. Und für das Studentenparlament interessiert sich erst recht niemand.“ Er engagiert sich ebenfalls lieber außerhalb der Uni bei der „Kampagne gegen Wehrpflicht“. Für die folgenden Jahre sieht Ingo schwarz. „Wenn die Studenten schon nicht aus der Reserve gelockt werden können, wenn’s ums eigene Geld geht, womit dann?“ Sein Kommilitone Benjamin, Theaterwissenschaftler an der Humboldt-Universität, spricht von der „lätschigsten Generation seit Jahren“. Die Studenten seien meist „lustbetont und egoistisch“. Er kritisiert aber auch die Art der Proteste, die es bisher gab. „Die meisten, die sich engagieren, haben nur Ideologien im Kopf.“

Für die Germanistin Nathalie ist die Zeit der großen Protestformen ohnehin vorbei. „Im Gegensatz zu 1968 gibt es heute für einen Protest, der über konkrete Ziele hinausgeht, keinen Anlaß mehr. Wenn sich die sozialen Unterschiede aber weiter so verschärfen wie bisher, könnten sich Arbeitslose und Studenten vielleicht tatsächlich einmal radikalisieren.“ Der Musikstudent Wolf-Christian sieht es ganz pragmatisch. „Wenn Studiengänge gestrichen werden, rechnen die Leute erst einmal nach, ob sie ihr Studium noch fertigbekommen. Erst dann entscheiden sie sich, ob sie protestieren.“ Zudem ist der Erwartungsdruck auf dem Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren sehr gestiegen. Gefragt ist der perfekte Hochschulabgänger. Kurze Studienzeit, Bestnoten und zahlreiche Praktika – da fällt es manchem Studenten schwer, den nötigen Elan für politischen Protest aufzubringen. Wenn nicht für eine konkrete Sache gekämpft wird, ist die Mehrheit nicht dabei. Die Sparpolitik fördert den Hang zum Eigennutz: Wenn Stunden vergehen, bis ein benötigtes Buch in einer der Bibliotheken gefunden ist, wenn man oft mehrere Tage pro Woche für den Lebensunterhalt jobben muß, bleibt nicht mehr viel Elan zum Protest.

So verschlechtern sich die Studienbedingungen von Jahr zu Jahr, der nachfolgenden Generation wird ein Scherbenhaufen hinterlassen, ohne daß die StudentInnen massiv auf die Straße gehen. Lassen sie diese Entwicklungen auch gänzlich kalt? „Da bin ich ganz egoistisch“, sagt die Mathestudentin Eva. „Das ist mir egal.“

Erschienen in: taz, 10.10.1997