Entscheidungsstrukturen in der Russischen Föderation

Die Organe und ihre Kompetenzen

Hausarbeit zum Proseminar „Zerfällt Rußland? Regionale vs. föderale Entscheidungsstrukturen in der Russischen Föderation“
Dozentin: Simone Schwanitz
Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft
SS 1997

vorgelegt von Tobias Jaecker

Gliederung:

1. Einleitung
2. Die Verfassung
2.1 Der Präsident
2.1.1 Der Präsidialapparat
2.1.2 Der Sicherheitsrat
2.1.3 Die Sicherheitsdienste
2.2 Die Regierung
2.3 Die Duma
2.4 Der Föderationsrat
2.5 Das Verfassungsgericht
3. Die Beeinflussung der Organe durch Lobbys
3.1 Das Militär
3.2 Die Unternehmerschaft
3.2.1 Der Militärisch-industrielle Komplex
3.2.2 Die Energiebranche
3.2.3 Die kommerziellen Banken
3.3 Die Agrarlobby
4. Das Verhältnis von Zentrum und Subjekten
5. Fazit
6. Bibliographie

1. Einleitung

Wenige Jahre nach dem Ende der Sowjetunion sind die russischen Machtverhältnisse zum großen Teil unklar. Die verfassungsgemäße Verteilung der Entscheidungskompetenzen ist oft bloße Theorie; in der Realität üben neben den verfassungsrechtlich legitimierten Organen zahlreiche weitere Personen und Gruppen Einfluß auf die Politik aus.

In der vorliegenden Arbeit sollen Verfassung und Verfassungswirklichkeit als Ganzes untersucht werden. Das besondere Augenmerk gilt dabei dem Machtverhältnis zwischen dem Zentrum und den föderalen Subjekten.

Abschließend soll der Versuch unternommen werden, ein vorsichtiges Urteil zu fällen, wer in Rußland in den verschiedenen Bereichen nun tatsächlich die Macht ausübt.

2. Die Verfassung

Die meisten der zahlreichen Verfassungsentwürfe, die im Vorfeld des Volksentscheides im Dezember 1993 erarbeitet wurden, bevorzugten ein Präsidialsystem als Regierungsform. Die Konstellation der Subjekte der Föderation wurde gar bei keinem der Entwürfe in Frage gestellt: Der Föderative Vertrag, in dem das Verhältnis von Zentrum und Subjekten schon weitgehend geklärt war, wurde, kaum verändert, als Grundlage in die Verfassungsentwürfe übernommen.

Am Ende konnte sich Präsident El’cin mit seinem Entwurf kompromißlos durchsetzten: Die am 24. Dezember 1993 in Kraft getretene Verfassung ist „einzig nach [seinen] Vorstellungen […] gestaltet“. So ist eine erhebliche, unkonrollierte Macht auf Seiten der Exekutive vorhanden, die der Präsident oder auch Interessengruppen nahezu ungehindert für ihre Zwecke nutzen können. Letztlich ist deshalb die Verfassung „ungeeignet, die Gefahr einer autoritären Entwicklung zu verhindern“.

Zudem dürfen Zweifel erhoben werden, inwieweit die Verfassung in Konfliktsituationen überhaupt Berücksichtigung findet: Zum einen, weil viele wichtige Fragen offen gelassen wurden. Zum andern hat sich in der jüngsten Vergangenheit bereits gezeigt, daß die Verfassung in vielen Fällen keineswegs Maßstab des Handelns der Exekutive ist.

2.1 Der Präsident

Die Verfassung weist „eindeutige Charakteristika eines präsidentiellen Systems“ auf, der Präsident nimmt eine „hervorgehobene Position“ ein.

So ist er zuständig für die Außenvertretung und die Festlegung der Grundrichtung der Innen- und Außenpolitik; er ist Staatsoberhaupt, Oberkommandierender der Streitkräfte und soll zudem als „Garant der Verfassung“ dienen. Der Präsident tritt als Schlichter bei Organstreitigkeiten und bei Streitigkeiten zwischen Zentrum und Regionen bzw. unter den Subjekten auf, erst nach seinen vermittelnden Maßnahmen kann das Verfassungsgericht angerufen werden. Der Präsident schreibt die Wahlen zur Duma aus und kann Referenden ansetzen. Die Duma kann er auflösen.

Der Präsident hat ein umfangreiches Vorschlagsrecht für die höchsten Gerichte, die Staatsanwaltschaft und den Vorsitzenden der Zentralbank und kann so einen gewisssen Einfluß auf diese Organe ausüben. Seine Vorschläge müssen jedoch von einer der beiden Parlamentskammern bestätigt werden.

Der Präsident hat das Recht, (verfassungskonforme) Dekrete zu erlassen, die u.U. zu einer parallelen Politik von Parlament und Präsident führen können. Im Falle einer Agression kann er den Kriegszustand über die gesamte Föderation bzw. den Ausnahmezustand über die Föderation oder einzelne Subjekte verhängen; dies muß er aber unverzüglich dem Parlament mitteilen. Präsidentenerlasse müssen vom Föderationsrat bestätigt werden.

Der Präsident kann nur aufgrund eines schweren Verbrechens oder eines Staatsstreichs entlassen werden, jedoch erst nach dem Urteil des obersten Gerichts und der Bestätigung des Verfassungsgerichts, zudem müssen zwei Drittel der Mitglieder des Föderationsrates zustimmen. Hier offenbart sich besonders deutlich die nahezu ungebremste Macht des Präsidenten; es ist äußerst wahrscheinlich, daß die Entlassungsprozedur „in der Praxis kaum zur Anwendung kommen“ wird.

Real ist der Präsident bevorzugtes Objekt von Lobbyarbeit, da bei ihm die größten Vollmachten liegen und die Machtstränge zusammenlaufen. Um jedoch „seine Vollmachten de facto auszuüben“, benötigt der Präsident „einen funktionierenden Apparat“ und eine weitverzweigte Verwaltung. Nur durch deren Zuarbeit ist es ihm letzlich möglich, Entscheidungen fällen zu können.

2.1.1 Präsidialapparat

Dem Apparat kommt also größte Bedeutung zu. In der Tat sind aber die „Angaben über das Konglomerat von Apparaten im Umfeld des Präsidenten unvollständig und widersprüchlich“. Denn der Apparat ist kein Verfassungsorgan, jedoch bedeutendes „Element der Verfassungswirklichkeit“ und damit ein „Beispiel für die teilweise problematische Offenheit der Verfassung“.

Seit 1991 hat Präsident El’cin die Präsidialbürokratie umfangreich ausgebaut; es existiert eine große Zahl von Beratungsorganen mit bürokratischem Unterbau. Da im Apparat vielfach Repräsentanten der alten und neuen Nomenklatura sitzen und wichtige Entscheidungen nach wie vor in einem engen Zirkel der Macht getroffen werden, wird deutlich, daß sich im Apparat „die strukturelle und personelle Kontinuität des Systems gegenüber der sowjetischen Epoche […] manifestiert“.

Im Apparat ist ein breites politisches Spektrum vertreten, Experten aus allen Bereichen der Gesellschaft sind durch ihn eingebunden. So dient er nicht nur der fachlichen Beratung des Präsidenten, sondern ist zudem ein Instument der „Abfederung“ zwischen bedeutenden gesellschaftlichen Kräften und der Exekutive. Insgesamt tragen der Apparat und die Berater jedoch „dazu bei, die demokratische Kontrolle durch das Parlament und die Öffentlichkeit zu untergraben“. Der politische Entscheidungsprozeß wird für Bevölkerung undurchschaubar, wogegen sich die Unabhängigkeit des Präsidenten bedeutend verstärkt.

Bei einer Untersuchung ist es „schwierig, Klarheit darüber zu erlangen, in welcher Weise diese Apparate ineinandergreifen und wie die internen Entscheidungswege verlaufen“.

Sicher scheint, daß als eine wichtige „Schlüsselposition“ die Stelle des Bürochefs, des ersten Gehilfen des Prädidenten, gelten kann. Dieser bündelt für den Präsidenten wichtige Informationen, zudem legt er dessen Tagesablauf und den zu empfangenden Besuch fest.

Eine wichtige Position nimmt auch der Leiter der Präsidialsadministration ein. Ihm untersteht eine Verwaltung, die zuständig ist für verschiedene Bereiche wie Analyse, Information und Propaganda, Kontrolle, Haushaltsorganisation sowie die Betreuung von Komitees und Kommissionen. Dort werden ebenso die laufenden Geschäfte geführt wie auch Entscheidungen vorbereitet und implementiert, d.h., dem Präsidenten werden Vorschläge, Empfehlungen und Prognosen zur politischen Strategie unterbreitet.

In der Präsidialadministration sind schätzungsweise über 1.000 Personen beschäftigt. Die Mitarbeiter gelten als loyal gegenüber Präsident El’cin, abweichende Meinungen werden augenscheinlich nicht geduldet. So hat sich ein „Hofstaat“ entwickelt, der als das „wirkliche Machtzentrum“ bezeichnet kann. Auf der anderen Seite gilt die Präsidialadministration in der gegenwärtigen noch nicht konsolidierten Situation als eines der wenigen arbeitsfähigen Entscheidungsgremien.

Daneben existiert ein sogenannter „Gehilfendienst des Präsidenten“, dessen Mitglieder dem Präsidenten direkt zugeordnet sind. Die „Gehilfen“ sind jeweils für bestimmte Politikfelder zuständig. Sie werden durch die Analysedienste der Präsidialadministration unterstützt, agieren aber unabhängig von ihr.

Bei der Bündelung von Informationen spielen auch die Kommissionen eine wichtige Rolle, die der Präsident in verschiedenen Sachbereichen einsetzen kann. Deren Beratungstätigkeiten sind nicht öffentlich und daher kaum zu kontrollieren.

2.1.2 Der Sicherheitsrat

Der Sicherheitsrat ist ein Verfassungsorgan, obwohl ihm keine festgelegten Kompetenzen zugeschrieben sind. Über seine personelle Zusammensetzung entscheidet der Präsident. Derzeit sind im Sicherheitsrat die beiden Vorsitzenden der Parlamentskammern wie auch Vertreter aller bedeutenden Ministerien und Ämter sowie der Geheimdienste vertreten. Ihm „gehören […] die wichtigsten Spitzenpolitiker an“. Durch persönliche Einbindung und die Herannahme zur Mitverantwortung kann sich der Präsident eine Verminderung möglicher Konflikte erhoffen. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist damit jedoch durchbrochen.

Zugrunde gelegt ist ein äußerst weit gefaßter Sicherheitsbegriff, der weit über das Militärische hinausgeht und neben dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen auch Bereiche wie Gesundheit und Umwelt einschließt.

Der Sicherheitsrat tritt selbständig in der Öffentlichkeit auf und hat eine eigene Organisationsstruktur. Schätzungsweise 160 Mitarbeiter werden in der Informations- und Analyseabteilung bzw. mit der Koordination und Vorbereitung der Sitzungen und Resolutionen des Rates beschäftigt. Die Arbeit des Präsidenten wird durch einen wissenschaftlichen Rat und ad-hoc-Kommissionen unterstützt. Zudem existieren interministerielle Kommissionen.

Man kann den Sicherheitsrat durchaus als „eine von der demokratischen Kontrolle unabhängige Regierung im Sinne des früheren Politbüros“ bezeichnen, denn seine Beratungen und Beschlüsse unterliegen keiner parlamentarischen oder öffentlichen Kontrolle, die Sitzungen sind nicht öffentlich. So wird nur selten klar ersichtlich, ob eine bestimmte Entscheidung der Präsident oder der Sicherheitsrat getroffen hat.

Eine wichtige Rolle spielte der Sicherheitsrat während des russischen Militäreinatzes in È eè nja, als er, für die Öffentlichkeit sichtbar, in Aktion trat: Er erarbeitete Vorschläge zum weiteren Vorgehen, die Präsident El’cin (formal) beschloß und welche die Regierung anschließend ausführte.

2.1.3 Die Sicherheitsdienste

Der größte Teil der Geheimdienste, die aus dem früheren KGB hervorgegangen sind, ist dem Präsidenten direkt unterstellt. Inwieweit dieser tatsächlich die Macht auf sie ausübt, ist fraglich. Fakt ist jedoch, daß das Parlament über keinerlei Kontrollmöglichkeiten verfügt.

Dem Präsidenten ist ebenfalls ein zu seinem persönlichen Schutz zuständiger Sicherheitsdienst unterstellt, der zudem die Korruption im Umfeld des Präsidenten bekämpfen soll. Dieser präsidiale Sicherheitsdienst verfügt „angeblich“ auch über einen eigenen analytischen Dienst, er hat also womöglich politischen Einfluß. Sein Leiter ist dermaßen eng in das Beziehungsgeflecht des Präsidenten eingebunden, daß er als weitere „Schlüsselfigur“ in der Umgebung El’cins zu bezeichnen ist.

2.2 Die Regierung

Die Russische Föderation hat laut Verfassung eine präsidiale Regierung. Lediglich der Ministerpräsident muß von der Duma bestätigt werden, alle übrigen Minister werden vom Präsidenten auf Vorschlag des Regierungschefs ernannt. Letzterer bestimmt auch die Grundlinien der Tätigkeit der Regierung. Er ist jedoch an Erlasse des Präsidenten gebunden. Der Präsident kann zudem Kabinettssitzungen zu leiten, außerdem ist er dazu befähigt, die Regierung zu entlasssen. Die Duma darf lediglich der Regierung als Ganzer das Mißtrauen aussprechen, der Präsident muß diese daraufhin nicht einmal entlassen.

Durch die starke Anbindung an den Präsidenten sind Reibunsverluste in der Exekutive und Auseinandersetzungen zwischen Ministerpräsident und Präsident um die größere Macht über die Regierung nahezu vorprogrammiert.

Durch die letztendliche Vergabe der Haushaltsmittel hat die Regierung zwar einen gewisssen realen Einfluß. Neben dem offiziellen Haushalt existieren aber zudem außerbudgetäre Fonds. Außerdem können spontane Kredite und Subventionen vergeben werden. Deshalb ist faktisch keine monetäre Stabilisierungsstrategie von der Regierung durchzusetzen und das Herunterfahren von Subventionen für veraltete Branchen kaum zu kontrollieren.

Die Fonds werden nicht im Haushalt ausgewiesen. Sie speisen sich aus direkten Abgaben der Betriebe und stellen mit einer finanziellen Größenordnung, die mit der des Haushalts vergleichbar ist, ein paralleles System der Finanzierung dar. Ursprünglich dazu geschaffen, um besonders wichtige sozio-ökonomische Projekte zu finanzieren, uferten die Fonds in den letzten Jahren immer weiter aus. Die demokratisch nicht kontrollierten Fonds bewirkten, daß alte Wirtschaftsstrukturen wie beim Öl- und Energiekomplex, in der Metallverarbeitung und auf dem Rüstungssektor weiterbestehen konnten. So kann man von direkten Erhaltungssubventionen sprechen.

Ohne die andere vorhandene Finanzquelle, die kurzfristigen Kredite, würden viele Unternehmen nicht überleben können. Die Kredite sind deshalb ebenfalls ein wichtiger Bereich der Unterstützung.

2.3 Die Duma

Das „Unterhaus“ des zweikammrigen russischen Parlaments, die Duma, spielt insgesamt eine „untergeordnete Rolle“. Die Duma setzt sich aus 450 Abgeordneten zusammen, wobei die Hälfte über Parteilisten, die andere Hälfte als Direktkandidaten gewählt werden. Sie ist zwar gesetzgebendes Organ, der Präsident kann aber gegen verabschiedete Gesetzesentwürfe sein Veto einlegen, das die Duma nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit überstimmen kann.

Die Duma kann vom Präsidenten aufgelöst werden, wenn sie dreimal den Kandidaten des Präsidenten für den Ministerpräsidentenposten ablehnt, außerdem, wenn sie innerhalb von drei Monaten zwei Mißtrauensvoten gegen die Regierung beschließt und der Präsident die Regierung nicht entlassen möchte, und zuletzt, wenn sie der Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten keine Unterstützung zukommen läßt.

Die geringe demokratische Kontrolle der Exekutive durch die Duma kann auf diese Weise leicht zum Einfallstor für autoritäre Entwicklungen werden, da politische Fehler von Ministern folgenlos bleiben, solange der Präsident selbst nicht bereit ist, sie zu entlassen.

Die meisten Abgeordneten der Duma gehören zwar Parteien an, sie sind aber in den seltensten Fällen an diese gebunden. So sind unter den Parteien lediglich die KPR und die LDPR in der Lage, als Fraktionen einheitlich abzustimmen. Die starke Fragmentierung der Abgeordneten macht eine wirkungsvolle Kontrolle der Regierung bei den bestehenden hohen Hürden im Ergebnis also noch unmöglicher.

Mit Ausnahme der Partei der Agrarier, die eindeutig die Interessen des Agrarlobby vertreten, können einzelne Interessengruppen meist keinen bestimmten Parteien zugerechnet werden.

Den Kern der Parlamentstätigkeit stellt die Haushaltsgesetzgebung dar. Deren Umsetzung liegt aber beim Finanzministerium, welches, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat, die aus Steuerausfällen resultierenden Kürzungen nicht proportional zum geplanten Haushalt, sondern einseitig vornimmt. Der Duma sind gegen diese Vorgehensweise keine Sanktionsmaßnahmen gegeben, und so ist das von ihr verabschiedete Haushaltsgesetz real nicht mehr als eine Orientierungshilfe für die Regierung.

Insgesamt muß man also bilanzieren, daß Parlament und Parteien „nur bedingt als politische Entscheidungsträger angesehen“ werden können.

2.4 Der Föderationsrat

Die zweite Kammer der Legislative, der Föderationsrat, setzt sich aus jeweils zwei Vertretern der 89 Subjekte der Russischen Föderation zusammen. Er ist das Vertretungsorgan der Subjekte auf zentraler Ebene. Die Abgeordneten werden zur einen Hälfte von den Exekutivorganen, zur anderen Hälfte von den Legislativorganen der Subjekte ernannt. Dies hat in der Realität zur Folge, daß im Föderationsrat neben Gouverneuren auch zahlreiche Verwaltungschefs und sonstige Angehörige der regionalen Eliten sitzen.

Der Föderationsrat ist zuständig für die personelle Zusammensetzung einiger hoher Gremien wie z.B. Gerichten. Er hat eine stärkere Stellung als die Duma, da er über die Verhängung des Ausnahme- und Kriegszustandes entscheidet. Außerdem kann der Präsident den Föderationsrat nicht auflösen.

Der Rat setzt die Präsidentschaftswahlen an und hat die letzte Entscheidung über die Amtsenthebung des Präsidenten. Er hat keinen Einfluß auf die Regierung, wirkt aber an der Gesetzgebung mit.

Mischte sich der Föderationsrat noch zu Anfang seines Bestehens praktisch nicht in die ökonomischen und sozialen Bereiche der Regionalpolitik der Regierung ein und spielte oftmals, wie in der Frage der Souveränität einzelner Regionen, die „Rolle eines hilflosen Statisten“, so erweist er sich inzwischen „keineswegs [mehr] als Erfüllungsgehilfe des Präsidenten“. Vor allem seitdem die Gouverneure in den Gebieten direkt gewählt werden, treten sie oder ihre Vertreter im Föderationsrat selbstbewußter gegen die Zentrale auf und verfolgen nunmehr gezielt die Interessen des entsprechenden Subjekts.

Die Abgeordneten des Rates sind nur äußerst selten an eine Partei gebunden. Sie repräsentieren „im besonderen Maße die Schichten der alten Nomenklatura, die in der Provinz mühelos den Sprung von den früheren in die neuen Spitzenpositionen der Regionalregierungen, Parlamente und Unternehmen geschafft hatten“.

Trotz der relativ hohen Eigenständigkeit der Abgeordeneten gilt der Föderationsrat als „Beispiel für die Strategie des Präsidenten, mittels neu geschaffener Organe auf zentraler Ebene die Subjekte der Föderation einzubinden“, hat er doch die Funktion, die unterschiedlichen Forderungen der Subjekte in geordnete Bahnen zu lenken. Der Föderationsrat erwies sich in der Zeit seines bisherigen Bestehens als relativ stabiles Staatsorgan, das, soweit möglich, den Präsidenten kontrolliert. Da im Föderationsrat aber in erster Linie die regionalen Interessen vertreten werden, stellt er „kein[en] Ersatz für eine funktionsfähige Volksvertretung“ dar.

2.5 Das Verfassungsgericht

Das Verfassungsgericht soll in Organstreitigkeiten vermitteln, die Verfassungsmäßigkeit der Handlungen des Präsidenten kontrollieren sowie Gesetzen und Verfassung Geltung verschaffen. Es hat zudem das Recht auf Gesetzesinitiativen für Angelegenheiten, die in seinen Bereich fallen. Die Richter werden vom Föderationsrat auf Vorschlag des Präsidenten gewählt.

Das Verfassungsgericht kann Anfragen wegen ihres politischen Gehalts zurückweisen, wodurch politischer Mißbrauch weitgehend eingeschränkt ist. Es ist jedoch fraglich, inwieweit das Gericht seinen Bestimmungen angesichts der fehlenden russischen rechtsstaatlichen Tradition zur Zeit überhaupt nachkommen kann. Bei Verfassungsverletzungen ist es bisher zumindest kaum aktiv geworden.

3. Die Beeinflussung der Organe durch Lobbys

Klassische Lobbyarbeit findet in der Russischen Föderation nicht wie in westlichen Staaten von außen an die Parlamentarier heran statt, sondern die Lobbyisten sitzen selber an den entscheidenden Machthebeln. Zur Begründung können die alten Seilschaften aus Sowjetzeiten herangezogen werden, die teilweise heute noch bestehen. So konnten viele Mächtige von einst ihre Posten in die „neue Zeit“ hinüberretten.

Da derartig viele Lobbyisten selbst Mitglieder des Regierungsapparats sind, kann man deren Vorgehensweise als „Staatslobbyismus“ bezeichnen. Durch die extrem unterschiedlichen und zumeist keineswegs national geleiteten Interessen, welche die einzelnen Akteure vertreten, kommt es zu einer Vielzahl von Konflikten innerhalb der politischen Organe, die von außen nicht immer rational nachzuvollziehen sind. Im folgenden sollen deshalb die wichtigsten Interessengruppen untersucht werden.

3.1 Das Militär

Durch ausbleibende Investitionen, die vielfach unzureichende materielle Versorgung der Soldaten sowie Nachwuchsprobleme ist in den letzten Jahren eine große Unzufriedenheit in der Armee entstanden. Als vorrangigstes Ziel zur Überwindung der Krise gilt die Erlangung eines größeren Anteils am Haushalt. Politisch strebt man die Kompensation des seit der Auflösung der Sowjetunion zunehmenden Bedeutungsverlustes an.

Teilweise überschneiden sich die Interessen der Militärs mit denen der Rüstungsindustrie, ansonsten ist der politische Einfluß aber schwer einzuschätzen. Augenscheinlich hat er eher geringe Ausmaße.

In der Duma hat die Armee keinen Rückhalt in bestimmten Fraktionen, jedoch kann es sich letztlich „keine Fraktion, die an der Erlangung der Macht interessiert ist, erlauben, die Interessen der Armee vollständig zu ignorieren“. Im Föderationsrat erhält die Armee aber größere Unterstützung, da die Vertreter der Regionen mit der Militärpolititk der Zentrale und der Situation der Armeeangehörigen vor Ort oft unmitttelbar in Kontakt kommen.

Einfluß üben die Streitkräfte, die parlamentarisch nicht kontrolliert werden, zudem im Sicherheitsrat aus, in dem ihre Vertreter sitzen.

3.2 Die Unternehmerschaft

Bei der „Mehrzahl“ der Betriebe hat sich an der Machtstruktur im Vergleich zu Sowjetzeiten nichts geändert. Die alten Direktoren sind jetzt oft Vorsitzende der umgewandelten Aktiengesellschaften. Die „wilde Privatisierung“, die während der Transformation der Sowjetunion erfolgte, machte diese personellen Kontinuitäten möglich.

3.2.1 Der Militärisch-industrielle Komplex

Der Militärisch-industrielle Komplex (MiK) verfügt über ein erhebliches ökonomisches Potential als Machtressource. Er nimmt eine „Schlüsselstellung“ ein, da die Schwerindustrie immer noch überwiegend auf seine Bedürfnisse ausgerichtet ist und er großen Anteil an der Entwicklung und Produktion der zukunftsträchtigen Hochtechnologie hat.

Der MiK ist auf niedrige Energiepreise angewiesen und steht damit im Interessensgegensatz zur Energiebranche. Die Direktoren der großen Rüstungsunternehmen haben enge Verbindungen zum Staatsapparat. Ihre Vertreter sitzen im Sicherheitsrat und gelten als treibende Kräfte für den Militäreinsatz in È eè nja.

Im Föderationsrat verschaffen die engen Verbindungen der Vertreter des MiK mit den regionalen Exekutiven der Interessenvertretung eine breite Basis.

3.2.2 Die Energiebranche

Die Struktur der Energiebranche ist von großen Unternehmen geprägt. Deren vorrangigstes Ziel ist die Erlangung von Investitionen, um die oft veralteten Förderanlagen zu modernisieren. Dem Staat hingegen sind die Energieunternehmen wegen der hohen Deviseneinnahmen von Bedeutung.

Als wichtigster Verbindungsmann gilt Ministerpräsident È ernomyrdin mit seinen Verbindungen zum weltweit zweitgrößten Energieunternehmen GASPROM.

Im Föderationsrat sitzen vielfach Direktoren aus der Energiebranche, außerdem sind einige Regionen von Energieunternehmen abhängig und verhalten sich deshalb deren Interessen gegenüber aufgeschlossen.

3.2.3 Die kommerziellen Banken

Die privaten Banken sind vor allem an einer funktionierenden Marktwirtschaft mit einer geringen Inflation und einer hohen Geldwertstabilität interessiert. Da sie über keinerlei Vorgängerunternehmen verfügten, sondern neu aufgebaut werden mußten, sind dort keine langjährig gepflegten Beziehungen vorhanden. Infolgedessen ist Lobbyarbeit kaum möglich.

Die Banken üben vor allem durch finanzielle Beteiligungen an Massenmedien Einfluß auf diese und damit auch auf die Öffentlichkeit aus. Der aus dem Finanzsektor kommende Potanin war bis vor kurzem Vizepremier.

3.3 Die Agrarlobby

Auf dem Agrarsektor gab es bisher kaum Umstrukturierungen, außer formeller Art. So lief die Reorganisation „faktisch nur auf eine Umbenennung hinaus“. Im Agrarbereich sind, ähnlich wie beim MiK, die alten Verbindungen noch gut erhalten. Insgesamt kann man sagen, daß „die Strategie der Agrarlobby […] auf die Monopolisierung politischer Macht zur Durchsetzung ihrer ökonomischen Interessen“ zielt.

Politischer Arm in der Duma ist die Partei der Agrarier, teilweise auch die KPR. Im Föderationsrat sitzen, je nach geographischer Lage des vertretenen Subjekts, ebenfalls viele Lobbyisten der Agrarier.

4. Das Verhältnis von Zentrum und Subjekten

Die Kompetenzverteilung zwischen dem Zentrum und den Subjekten der Föderation wurde im Wesentlichen bereits in den Föderationsverträgen von 1992 geregelt. Diese setzten prinzipiell gleichrangige Partner voraus, was bedeutet, daß die Föderation von unten herauf aufgebaut ist. Andererseits wurde in den Verträgen die Verteilung von Kompetenzen zwischen Bund und Subjekten geregelt, was einer Dezentralisierung von oben gleichkommt. So kam es oft zu abweichenden Interpretationen der Verträge.

Als 1992 und 1993 der Machtkampf zwischen Präsident und Parlament tobte, versuchten beide Seiten, durch ökonomische und politische Zugeständnisse möglichst viele Subjekte auf ihre Seite zu ziehen. Eine stringente Linie wurde dabei nicht verfolgt, und so schwankte „Jelzins Politik in der nationalen Frage […] zwischen Gewaltandrohung, billigem Schacher und leeren Versprechungen“.

Insgesamt ist es nicht gelungen, die Kompetenzverteilung eindeutig und für alle Subjekte gleichberechtigt zu klären. So sind die in der jetzigen Verfassung vorhandenen entsprechenden Paragraphen überwiegend den früheren Föderationsverträgen mit den Republiken entnommen. Die Verfassung nennt außer auf national-kulturellem Gebiet kaum Bereiche, die ausdrücklich den Subjekten unterstehen. Für den Beschluß von weitergehenden Vereinbarungen wurde kein Verfahren festgelegt.

Die fehlende Abgrenzung von Zuständigkeiten ließ jedoch Verhandlungen zwischen Zentrum und Subjekten vor allem letzteren als immer notwendiger erscheinen. Bis zum Juni 1996 sind deshalb mit neun Republiken und 14 Gebieten sogenannte „Kompetenzabgrenzungsverträge“ geschlossen worden. Je nachdem, ob die verhandelnden Subjekte über Rohstoffe für den Export verfügten, ob auf ihrem Gebiet hochtechnisierte Industrie angesiedelt war oder ob sie einen eigenen Markt zur Verfügung hatten und sich auf diese Weise relativ autark wirtschaftlich betätigen konnten, führte ihre recht verschiedenartige Stellung zu unterschiedlich großen Zugeständnissen des Zentrums. Diese umfassen z.B. die Anerkennung und den Schutz der Souveränität, das Recht auf Unterhaltung internationaler Beziehungen, die Abbaurechte der auf dem eigenen Territorium vorhandenen Rohstoffe, die Einführung eines eigenen Budgets, das Recht, eigene Steuern zu erheben, die Einrichtung einer Nationalbank sowie die Unterhaltung internationaler wirtschaftlicher Beziehungen.

Die unterschiedliche Situation und die differierenden Interessen der Subjekte wurden dabei auch oft vom Zentrum instrumentalisiert. In vielen Fällen herrschte die Taktik „geringer Zugeständnisse und Annäherungsversuche an einige Regionen bei gleichzeitigem administrativem Druck auf andere“ vor. Auf diese Weise wurde jedoch die Durchführung einer einheitlichen Regionalpolitik und die entsprechende „Übereinstimmung zwischen und in den entscheidenden Machtzentren“ unmöglich. Die Regierung hatte vielfach „kein umfassendes regionalpolitisches Konzept vorzuweisen“, nicht einmal im Wirtschaftsbereich, da sie „alle ihre Bemühungen auf finanzielle Fragen“ konzentrierte, und so verlor sie mit der Zeit die Fähigkeit zur Lenkung. Möglicherweise hat die Regionalpolitik der Regierung deshalb sogar einen „desintegrierenden Charakter“. Sicher scheint, daß das Zentrum derzeit „kaum in der Lage [ist], die Kontrolle über das Territorium der Russischen Föderation auszuüben“.

In vielen Regionen fand in den letzten Jahren eine Machtverlagerung zugunsten der Exekutive statt. Teilweise wurden deren Angehörige in die Parlamente gewählt, und oftmals besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen Verwaltungseliten und Unternehmern der Region.

Die wichtigste und von den unterschiedlichsten Subjekten immer wieder erhobene Forderung umfaßt den Wunsch nach dem zumindest teilweisen Besitzrecht auf alle Formen natürlicher Ressourcen, die sich auf dem jeweiligen Territorium befinden. Da ihnen diese und andere Forderungen bisher vielfach nicht zugewilligt wurden, kam es in der Vergangenheit zu zahlreichen eigenständigen Handlungen der Subjekte wie z.B. der Verweigerung von Zahlungen an das Finanzministerium der Föderation oder der illegalen Erhebung von regionalen Steuern. Bislang ist es Präsident El’cin nicht gelungen, diesen Mißstand auch nur annähernd zu beheben.

5. Fazit

Es ist deutlich geworden, daß die Auseinandersetzung mit den Akteuren und deren Motiven „von ausschlaggebender Bedeutung“ ist, da ihre polititsche und persönliche Vernetzung eine viel größere Rolle spielt als in gefestigten westlichen Demokratien, in denen die Entscheidungsfindungsprozesse ersichtlicher ablaufen und wo verhältnismäßig mehr demokratische Kontrolle der entscheidenden Organe stattfindet. So wird die „Verschränkung von Staat und Gruppeninteressen“, die „Verflechtung von Eliten“, zum „charakteristischen Merkmal“ des sich derzeit herausbildenden politischen Systems Rußlands.

In der Verfassung wie auch real ist der Präsident die „zentrale politische Figur“, andere Verfassungsorgane spielen „nur eine untergeordnete Rolle“. Die Lobbys, die deshalb letztlich alle einen höheren Einfluß auf den Präsidenten anstreben, müssen sich „über den Präsidentenapparat“ Zugang zu ihm verschaffen.

Im Verhältnis zu den Subjekten der Föderation scheint Präsident El’cin nicht so viel Macht zu besitzen. Dies zeigt sich bei der Verweigerungshaltung vieler Subjekte in bezug auf steuerliche und wirtschaftliche Kooperation mit dem Zentrum. In den Kompetenzabgrenzungsverträgen mußte das Zentrum teilweise erhebliche Zugeständnisse machen. Andere, wirtschaftlich schwächere Regionen, die über keinerlei Druckmittel verfügen, sind dabei die Verlierer.

Als verhältnismäßig stabiles, wenn auch nicht mit allzu viel Macht ausgestattetes Organ erweist sich der Föderationsrat. Er dient den Subjekten der Föderation als Plattform zur Artikulierung ihrer Interessen auf zentraler Ebene. Die Entscheidungen, die für die Subjekte von größerer Bedeutung sind, werden jedoch – wie die Kompetenzabgrenzungsverträge – in direkten Verhandlungen zwischen ihren Vertretern, die wiederum eng mit den regionalen Wirtschafts- und Verwaltungseliten verbunden sind, und dem Präsidenten bzw. der Exekutive geklärt. So ergibt sich die Tatsache, daß in der Verfassungswirklichkeit lediglich unwesentliche Beschlüsse das Ergebnis eines demokratischen Entscheidungsfindungsprozesses darstellen.

6. Bibliographie

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