Die konstituierende Versammlung 1918 in Russland

Hausarbeit zum Proseminar „Das Jahr 1917 in Rußland“
Dozent: Univ.-Prof. Dr. H.-J. Torke
Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaften
WS 1996/97

vorgelegt von Tobias Jaecker

Gliederung:

1. Einleitung
2. Vorgeschichte
3. Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung
4. Nach den Wahlen: Ungewisse Lage
5. Die Deputierten kommen zusammen
6. Die Auflösung der Zusammenkunft und die Folgen
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Basis eines Rechtsstaates bildet die Verfassung, in der die Staatsform, insbesondere die politische Kräfteverteilung sowie Macht- und Entscheidungsmechanismen festgelegt sind.

Bis 1905 war Rußland ein autokratischer Staat. Die ab diesem Zeitpunkt zu wählende Staats-duma war ein Schritt in Richtung konstitutioneller Monarchie, doch das ursprünglich freie, allgemeine Wahlrecht war vom Zaren in ein Zensuswahlrecht verwandelt worden. Zudem machten dessen weitgehende Eingriffsrechte eine eigenständige Arbeit der Abgeordneten unmöglich.

Erst 1917 wurde angesichts der sich stetig zuspitzenden Situation der Versuch unternommen, nach allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlen eine konstituierende (=verfas-sungsgebende) Versammlung einzuberufen. Diese sollte, demokratisch legitimiert, eine Ver-fassung ausarbeiten und beschließen.

Im Folgenden soll nun untersucht werden, wie die Wahlen vorbereitet und durchgeführt wur-den, ob sie wirklich als demokratisch bezeichnet werden können und schließlich, warum die gewählten Deputierten nach nur einer Sitzung nicht wieder zusammentreten konnten.

2. Vorgeschichte

Eine Konstituierende Versammlung wurde schon in den Neunziger Jahren des letzten Jahr-hunderts vor allem in den Zemstvo-Kreisen propagiert, sowie von verschiedenen politischen Gruppierungen, deren Aktivitäten sich gegen den Zaren richteten. Lenin strebte bereits 1905 die Wahl einer konstituierenden Versammlung an. Der damals unbekannte Stalin, im Kau-kasus lebend, beendete einen Zeitungsartikel mit den Worten: „Lang lebe die Konstituierende Versammlung!“

Die Idee, eine solche Zusammenkunft von Vertretern aus dem russischen Volk zu organi-sieren, um eine Verfassung zu erarbeiten und zu beschließen, liegt in der Tradition der fran-zösischen und amerikanischen Revolution und stellt die schnellste Möglichkeit dar, um die Autokratie zu stürzen und eine liberale Demokratie zu errichten.

Die Provisorische Regierung propagierte die Konstituierende Versammlung bereits unmittel-bar nach ihrer Einsetzung in den ersten Verlautbarungen. Paul Miljukov, Außenminister im 1. Kabinett, bekräftigte am 4. 3. 1917, die Versammlung werde einberufen, sobald „Ordnung und Ruhe im Lande“ gesichert und damit die „notwendigen Bedingungen“ geschaffen worden seien. Kurz darauf erklärte Rodsjanko, der Präsident der Duma, in der von Soldaten be-setzten Jekaterinen-Halle, die Duma werde der Konstituierenden Versammlung und der Regierung, die von dieser gewählt werden würde, ohne Ansprüche zustimmen. Für diese Aussagen erntete er Ovationen und Jubel, die Idee begann, sich auf die Massen zu übertragen.

Die Provisorische Regierung ernannte nun ein Wahlkomitee, das die Wahlvorbereitungen treffen sollte, widmete sich dann aber vorerst anderen, drängenderen Aufgaben. Ende Mai trafen die 60 Mitglieder des Komitees erstmals zusammen. Die bedeutendsten Strömungen und Nationalitäten waren dort vertreten.

Premierminister Lvov eröffnete das Treffen. Er sagte, die Konstituierende Versammlung müsse, wenn die Revolution auf ihrem Höhepunkt stehe, die Grundlagen für die Zukuft in Form eines freien demokratischen Staates legen. Der Vorsitzende Kokoschkin verkündete den Wunsch der Provisorischen Regierung, die Konstituierende Versammlung solle mit „allge-meiner, direkter, gleicher und geheimer Wahl“ gebildet werden. Desweiteren wurden Fragen erörtert wie Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht und Personen- oder Parteiwahl, außerdem Details der Distriktaufteilung und die Wahlmöglichkeiten für Soldaten und Seemänner. Die Arbeit verlief insgesamt langsam und bedächtig, schwere Entscheidungen wurden mit dem Argument der nicht gewährleisteten Stabilität verschoben.

Im Sommer beschleunigte starker öffentlicher Druck die Entwicklung der Wahlvorberei-tungen. Die Sozialrevolutionäre verfuhren nach dem Motto „besser mit Fehlern als gar nicht“, und die Bolschewiki äußerten sich ähnlich. Kerenski, der Ministerpräsident der Provisori-schen Regierung, setzte daraufhin die Wahl für den 17. September an, die Zusammenkunft der Versammlung sollte dann am 30. 9. stattfinden. Der frühe Termin konnte jedoch offi-ziellen Verlautbarungen zufolge organisatorisch nicht eingehalten werden und wurde auf den 12. 11. verschoben.

Dazwischen fiel die Machtergreifung der Bolschewiki. Die gestürzte Regierung beschuldigte diese daraufhin, sie wollten die Wahl sabotieren und auf unbestimmte Zeit verschieben, weil sie ein vernichtendes Votum der Wähler befürchteten. Das Wahlkomitee ließ verlautbaren, die Bolschewiki erzeugten Vorraussetzungen wie Anarchie und Terror, unter denen eine faire Wahl unmöglich sei.

Lenin wollte die Wahl tatsächlich erst verschieben, weil er ebenso wie viele seiner Parteige-nossen ahnte, daß die Bolschewiki nur geringe Zustimmung erhalten würden. Aber seine Mit-streiter, vor allem Trotzki, überredeten ihn, dem öffentlichen Druck nachzugeben und den Plan einzuhalten.

3. Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung

Schließlich fanden die Wahlen vom 12. bis zum 14. November statt. In einigen Distrikten konnten die Vorbereitungen nicht abgeschlossen werden, in wenigen Fällen gab es Ver-schiebungen teilweise über drei Monate, ganz selten bestand gar keine Möglichkeit zur Stimmabgabe. Die fehlende demokratische Erfahrung spielte dabei natürlich eine große Rolle, ebenso die Belastungen durch Kriegs- und Revolutionswirren. Die Weite des Landes und das teilweise unterbrochene Kommunikationssystem ließen einige Wahlergebnisse, vor-nehmlich von der Front, verlorengehen. Insgesamt wurden dadurch ca. 100 Sitze nicht besetzt.

Ein gänzlich klares Bild kann aber auch deshalb nicht gegeben werden, weil sich in den verschiedenen Regionen eine Unzahl von Parteien und Listen zur Wahl stellten. Die Grund-züge der Ergebnisse sind aber deutlich und ohne Zweifel stimmig und unanfechtbar. Die Wahlergebnisse gliedern sich wie folgt:

Liste – Stimmenanteil – Sitze:
Sozialrevolutionäre/linke SR – 4.842.738 – 299/39
ukrainische SR – 9.844.637 – 81
Bolschewiki – 1.364.826 – 168
Menschewiki – 322.078 – 18
Volkssozialisten – 1.986.601 – 4
Kadetten – 109.161 – 15
Rechte – 5.172.077 – 2
nationale Listen – 41.686.876 – 77
gesamt – 15.848.004 – 703

Die Bolschewiki hatten also erdrutschartig an Zustimmung verloren, wobei sie meist in den Städten und den daran anliegenden Gebieten mit viel Industrie am stärksten abschneiden konnten, also eher im Nordwesten Rußlands. Ferner erhielten sie viele Stimmen von den Soldaten, bei denen Lenins Versprechen nach sofortigem Frieden starken Eindruck machte, oder dort, wo Soldaten stationiert waren und so für die Bolschewiki werben konnten.

Die Kadetten versagten fast vollständig, was vor allem auf die notorische Schwäche der russischen Mittelklasse zurückzuführen ist. Außerdem war das Programm der Kadetten, das auf westlichen Idealen aufbaute, durch fehlendes oder noch nicht entwickeltes Interesse nicht mehrheitsfähig. Nur in Moskau und Petrograd waren die Kadetten stark. Dort konnten sie viele konservative Wähler auf ihre Seite ziehen.

Für kirchliche und rechte Parteien gab es kaum Unterstützung. Monarchie und Kirche hatten bereits erheblich an Einfluß verloren und ein klassisches Nationalbewußtsein hatte sich noch kaum entwickelt. Im Gegensatz dazu bildet das erstarkende Bewußtsein ethnischer Gruppen, die nach der Unterdrückung zur Zarenzeit nun auflebten, einen scharfen Kontrast. Das heraus-ragendste Ergebnis waren hier die fünf Millionen Stimmen für die ukrainischen Listen.

Generell war das Votum für Gruppen nationaler Minderheiten an der Peripherie sehr stark, neben der Ukraine auch im Baltikum, zwischen Volga und Ural sowie im Transkaukasus.

Von den religiösen Parteien konnten nur die mohammedanischen im Osten starke Gewinne, ungefähr eine Million Stimmen, einfahren.

Die Hauptgewinner der Wahl waren die Sozialrevolutionäre, die vornehmlich wegen dem Ziel der Landverteilung gewählt wurden. Ihre Hochburgen lagen vor allem im Südosten, entlang der Volga und in Sibirien. Die Wählerschaft bestand fast ausschließlich aus Bauern. Am stärksten schnitten die Sozialrevolutionäre in Gebieten ab, in denen es wenige Verbin-dungen zur Stadt, beispielsweise durch Saisonarbeiter, gab.

Lenin beschrieb die Wahl später so, daß in den Gebieten mit niedrigem bolschewistischem Wahlanteil die größte konterrevolutionäre Entwicklung stattgefunden habe und die Ergeb-nisse der Wahl den Bürgerkrieg vorweggenommen hätten. Dies macht aber auch deutlich, daß die zweigeteilte Stimmung des Volkes durch die Wahl unverfälscht wiedergegeben wurde.

Zur Frage der Beeinflussung der Ergebnisse läßt sich sagen, daß die Wahlen insgesamt recht korrekt verliefen. Zwar beeinflussten Anhänger der Boschewiki, vor allem Soldaten und Ma-trosen, die Wähler teilweise erheblich. Da jedoch die Provisorische Regierung die Wahl leite-te, fand eine einseitige Manipulation nicht statt und die Vorfälle in den unterschiedlichen Lagern glichen sich aus.

Bei der Frage des polititischen Bewußtseins der Menschen fällt besonders der stark schwan-kende Zuspruch für die Parteien in den Städten im Jahr 1917 ins Auge, bei der Wahl zur Kon-stituierenden Versammlung fand aber dort erstmals eine Konsolidierung statt. Zum anderen ist der Erfolg auffällig, den verschiedene Gruppen wie Soldaten und Arbeiter bei der Beein-flussung der Bauern erzielen konnten, welche dann den Bolschewiki ihre Stimme gaben.

Wo keine Arbeiter und Soldaten auftraten, wurden aus alter Verbundenheit die Sozialrevo-lutionäre gewählt. In den ländlichen Gebieten war die Wahlbeteiligung mit 60 bis 80 Prozent sehr hoch, es herrschte oft großer Enthusiasmus bei der Stimmabgabe, die auf dem Dorf viel-fach kollektiven Charakter hatte. Dort war ein individuelles politisches Bewußtsein noch kaum vorhanden.

In den Städten lag die Wahlbeteiligung nur bei knapp 50 Prozent. Möglicherweise ist dies die Folge einer Geringschätzung der Konstituante seitens der städtischen Bevölkerung.

4. Nach den Wahlen: Ungewisse Lage

Nach der Wahl bestand eine große Ungewißheit, ob Lenins Regime die Zusammenkuft der Konstituierenden Versammlung zulassen würde. Im Dezember werden einige Deputierten der Sozialrevolutionäre verhaftet. Sinowjew, der Vorsitzende des Petrograder Sowjets, verkündet vor dem Exekutivkomitee, die Konstituierende Versammlung dürfe erst zusammentreffen, wenn diese das Sowjetregime als legitim anerkenne.

Lenin erläutert in seinen „Thesen zur Konstituierenden Versammlung“, daß die gewählten Abgeordneten keinerlei Legitimierung zur Vertretung des Volkes besäßen. Er sagt, die Repu-blik der Sowjets sei eine „höhere Form des Demokratismus“. Die Versammlung repräsentiere nicht den Volkswillen, da die Mehrheit des Volkes weder Reichweite noch Bedeutung der Oktoberrevolution habe erkennen können. Die „Interessen dieser Revolution“ stünden „höher als die formalen Rechte der Konstituierenden Versammlung“, deren Einberufung ein „Verrat an der Sache des Proletariats“ wäre.

In der Folgezeit werden weitere Mitglieder des Wahlkomitees verhaftet. Die Sozialrevolutio-näre erkennen zum großen Teil den Ernst der Lage nicht. Innerhalb der Partei gibt es Gruppen mit weit auseinandergehenden Meinungen. Teile plädieren für sofortigen Frieden, andere wollen den Krieg erst siegreich zu Ende führen. Der Zeitpunkt der Landverteilung ist eben-falls strittig.

Die Sozialrevolutionäre unternehmen schwache Versuche, Verbündete gegen die Bolschewiki zu finden, was jedoch scheitert. Daraufhin bilden sie sich ein, die Versammlung im schlimm-sten Fall mit eigenen Händen schützen zu können, was jedoch angesichts der realen Macht der Bolschewiki illusorisch ist.

Letztendlich erlaubt das Sowjetregime dann die Zusammenkunft für vorerst einen Tag. Das Treffen wird für den 5. 1. 1918 angesetzt.

5. Die Deputierten kommen zusammen

Die Bolschewiki bereiten sich gut vor: Die zum Tagungsort, dem Taurischen Palast, führen-den Straßen sind mit ihren Anhängern gefüllt, die Galerien innerhalb des Palastes ebenfalls. Teile des Publikums sind bewaffnet. Beim Podium sind Streitkräfte postiert. Es herrscht eine gereizte Stimmung.

Gegen 16 Uhr treffen die Delegierten nach und nach ein. Bei der Mehrheit der Sozialrevolu-tionäre überwiegt die Resignation über die politischen Erfolgsaussichten der Zusammenkunft.

Nach europäischer Tradition wird der älteste Delegierte, der Sozialrevolutionär Schwetsov, von seiner Partei zum Vorsitzenden des Präsidiums nominiert. Während er die Versammlung eröffnet, wird er durch Lärm aus dem Publikum unterbrochen. Der Bolschewik Swerdlov verschafft sich eigenmächtig mit der Glocke Gehör und tut kund, daß er Anspruch auf den Vorsitz erhebe, da er vom Sowjet dazu ermächtigt worden sei. Außer einem schwachen Mur-ren der Sozialrevolutionäre wird jedoch kein ernsthafter Versuch unternommen, ihn zu behin-dern. Er leitet nun die Wahl des ständigen Präsidenten ein, die von Viktor Chernov, dem ehemaligen Landwirtschaftsminister der Sozialrevolutionäre in der Provisorischen Regierung, gewonnen wird. Wegen des klaren Ergebnisses wird seine Wahl auch allgemein respektiert. Chernov geht in seiner Antrittsrede nicht auf Provokationen ein. Als vorrangigste politische Ziele benennt er die Landreform und den Frieden. Er sagt, mit der Zusammenkunft der gegen-wärtigen Versammlung sei die Übergangsperiode abgeschlossen.

Nach ihm kommen einige Bolschewiki zu Wort. Sie verhalten sich rüde im Umgangston, aber trotz sich steigernder provokanter Stimmung kann die Ordnung gewahrt werden. Die Bolsche-wiki stellen eine Resolution zur Abstimmung mit dem Titel „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“, durch die im Kern die Anerkennung des Sowjets als legale Regierung Rußlands festgeschrieben werden soll. Nach der erwartungsgemäßen Ablehnung verliest ein Deputierter der Bolschewiki eine Erklärung, die im Tenor verfaßt ist, die Sozialrevolutionäre lenkten den Kampf der bourgeoisen Kräfte gegen die Arbeiter- und Bauernrevolution, des weiteren seien sie eine bourgeoise und konterrevolutionäre Partei.

Nach Applaus und Zustimmung des Publikums, der Bolschewiki sowie der linken Sozial-revolutionäre, die jetzt generell auf der Seite der Bolschewiki stehen, strömt das Publikum in den Saal und verursacht so eine längere Unterbrechung. Die Bolschewiki ziehen während-dessen aus der Versammlung aus.

Obgleich die Mitternachtsstunde schon überschritten ist, fahren die Sozialrevolutionäre mit der parlamentarischen Arbeit fort, bewußt über die günstige Situation, ihre Vorlagen durchzu-setzen. Zunächst wird ein Friedensdekret verabschiedet, das aber nicht sehr entschlossen ver-faßt ist. Der demokratische Weltfrieden wird dort ausgerufen, aber „nicht auf Kosten von russischen Interessen“.

Dann wird eine Resolution verfaßt, bei der besonders der russisch-nationalistische Charakter hervorsticht: Das neue Rußland sei eine „untrennbare Union von Völkern und Territorien“, trotzdem seien die Nichtrussen souverän innerhalb der Grenzen, die in einer föderalen Ver-fassung festgelegt werden sollen. An dieser Stelle wird das widersprüchliche, uneinheitliche Wesen der Sozialrevolutionäre wieder einmal deutlich.

Als man zur Landreform übergehen will, wird ein Bolschewik zu Chernov geschickt: Man sei wegen der fortgeschrittenen Zeit, fünf Uhr morgens und 13 Stunden nach der Eröffnung, mü-de und wolle die Versammlung vertagen. Die Delegierten stimmen daraufhin noch unter Zwischenrufen über einige Punkte der Landreform ab und gehen dann auseinander im Glau-ben, ihre Arbeit später fortsetzen zu können.

6. Die Auflösung der Zusammenkunft und die Folgen

Die Konstituierende Versammlung tritt aber nicht mehr zusammen, da das Exekutivkomitee des Sowjets interveniert und die Versammlung für aufgelöst erklärt. Als die Delegierten am kommenden Nachmittag zurückkehren wollen, verbarrikadieren rote Soldaten die Türen. Einige schwache Versuche, die Deputierten an anderem Orte wieder zu versammeln, ver-sanden erfolglos.

Die meisten Parteien protestieren, ihre Anhänger zeigen aber oft Verständnis. Es gibt Applaus sowohl von ganz links als auch von rechts.

Lenin erklärt vor dem Exekutivkomitee, man habe lediglich „den Willen des Volkes ausge-führt, den Willen, der da lautet: Alle Macht den Sowjets!“ Zwar gibt er zu, die Konstitu-ierende Versammlung einst selber gefordert zu haben, doch seien die Sowjets inzwischen „als revolutionäre Organisationen des Volkes zu etwas unvergleichlich Höherem als alle Parla-mente der ganzen Welt“ geworden. Die Abgeordneten der gegnerischen Parteien bezichtigt er der Anwendung von „Gewalt und Sabotage“. Die Sojetmacht werde „um nichts in der Welt“ hergegeben.

Das zutiefst undemokratische Verhalten Lenins mag überrascht haben, es war jedoch keines-wegs neu. Seine Überzeugung von der überragenden Machtstellung der Sowjets tat Lenin schon lange vor der Machtergreifung kund, was ihn nicht daran hinderte, zeitweilig die Kon-stituierende Versammlung aus populistischen Gründen selber zu fordern. Die Bolschewiki taten dies offiziell sogar noch viel vehementer. Wie man im Nachhinein bemerken kann, wohl nur deshalb, um im Sowjet die Macht zu erlangen.

7. Fazit

Insgesamt hat die Konstituierende Versammlung keine ins Gewicht fallende unmittelbare Einwirkung auf die russische Geschichte ausgeübt. Ihre Bedeutung hat sie jedoch als die einzige frei gewählte Legislative in der russischen Geschichte bis Anfang der Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts.

Die Zusammensetzung der Delegierten verdeutlicht, daß die Machtverhältnisse in den Sowjets nicht dem realen politischen Willen der Bevölkerung entsprachen. Eine demokra-tische Legitimation besaß nur die Konstituierende Versammlung, deren Mehrheiten von den Bolschewiki mißachtet wurden.

Welches Ergebnis eine ungestörte Weiterarbeit hervorgebracht hätte, ist jedoch weitgehend Spekulation. Chernov schreibt in seinen Memoiren, die Stimmung für eine republikanische Verfassung sei vorhanden gewesen. Man kann jedoch bei genauerer Betrachtung der Zusam-mensetzung und der divergierenden Ansichten der Sozialrevolutionäre auch zur gegenteiligen Ansicht gelangen. Eine weitere Tatsache, die der erfolgreichen Ausarbeitung einer demokra-tischen Verfassung wohl im Wege gestanden hätte, ist die unzureichende historische Vorbe-reitung und das daraus resultierende unterentwickelte demokratische Bewußtsein der Bevöl-kerung. Einen anderen Nachteil bildet das schwache russische Rechtssystem.

Unbestritten ist jedoch, daß die Durchführung von allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlen zu einem verfassungsgebenden Organ, der Konstituierenden Versammlung, der Demokratiebewegung einen gehörigen Schub versetzte. Das Demokratieverständnis der Bevölkerung konnte auf diese Weise erst geweckt werden. Das Machtkalkül Lenins ver-hinderte jedoch dessen Weiterentwicklung in den kommenden Jahrzehnten.

8. Literaturverzeichnis

Chernov, Viktor: Russia’s One Day Parliament. In: Riha, Thomas (ed.): Readings in Russian Civilization (Vol. 3). Chicago/London 1964.

Hellmann, Manfred: Die russische Revolution 1917 (Dokumente). München 1964.

Hildermeier, Manfred: Die Russische Revolution 1905-1921. Frankfurt am Main 1989.

Kropat, Wolf-A.: Lenin und die konstituierende Versammlung in Rußland. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas (Bd. 5). München 1957.

Layton Jr., Roland V.: Constituent Assembly of 1918. In: Wieczynski, Joseph L. (ed.): The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History (Vol. 8). Blacksburg (USA) 1978.

Lenin, Wladimir I.: Werke. (Ins Deutsche übertragen nach der vierten russischen Ausgabe) Berlin 1972.

Radkey, Oliver H.: The Election to the Russian Constituent Assembly of 1917. Cambridge 1950.