Antiamerikanismus ist in Deutschland tief verwurzelt. Wo er herkommt, wie er wirkt und wer ihn sich zunutze macht. Porträt eines politisch heiklen Gefühls.
Von Tobias Jaecker
Wer einen großen Bruder hat, der weiß, wie dicht Bewunderung und Ablehnung oft beisammenliegen. Der kennt den Bruder vielleicht als starken Beschützer, Freund und Vorbild. Vielleicht aber auch als einen, von dem man sich abgrenzen will, gegen den man womöglich sogar Hass und Aggressionen hegt, weil er das eigene Leben zu bestimmen scheint – und von dem man doch nie ganz loskommt. So sehr man es auch versucht.
Es ist kein Zufall, dass es ausgerechnet das Bild vom großen Bruder Amerika ist, das ganze Generationen in Deutschland geprägt hat. Die dazugehörigen Gefühle kommen alle Jahre wieder eruptionsartig an die Oberfläche. Wie jetzt mit Donald Trumps neuerlicher Amtsübernahme. Viele Deutsche sind schockiert. Die AfD dagegen bejubelt den autoritären, demokratieverachtenden und nun wieder mächtigsten Mann der Welt als einen der ihren. Thüringens AfD-Chef Björn Höcke schrieb auf X, an Trump gerichtet: „Bitte enttäuschen Sie uns nicht!“ Ausgerechnet Höcke, der die Vereinigten Staaten für den Ukrainekrieg verantwortlich macht. Der behauptet, die USA würden als „raumfremde Macht“ und Zentrale eines vermeintlichen „Regenbogenimperiums“ die Nationen in Europa zerstören. Und der noch auf dem Bundesparteitag am 11. Januar in verschwörerischem Duktus forderte, Deutschland dürfe „nicht länger Objekt fremder Interessen werden“.
„Bitte enttäuschen Sie uns nicht!“: Wenn man an die Unterstützung der AfD durch den Trump-Vertrauten Elon Musk denkt, sieht es nicht nach einer Enttäuschung aus. Dagegen passt die Aussicht, dass Trump gegenüber Europa interessenpolitisch rücksichtslos agiert und sich nach Belieben einmischt, nicht gerade ins Idealbild der AfD. Wie geht das zusammen?
Tatsächlich ist es geradezu typisch für antiamerikanisches Denken, ganz unterschiedliche, auch widersprüchliche Gefühle zu vereinen, die auf Amerika projiziert werden – Hass und Neid, Sehnsüchte und Ängste. Als nach der Regierungszeit des ungeliebten Georg W. Bush 2008 Barack Obama die Präsidentschaftswahl gewann, wurde er hierzulande von Linksliberalen bejubelt – als Gesicht des „anderen Amerika“ und regelrechter Erlöser. Das erinnert – unter umgekehrten Vorzeichen – an die Begeisterung der Rechten für Trump. Auch damals ging der überaus positive Blick auf Obama mit heftigen Ressentiments gegenüber den USA einher. In der Weltfinanzkrise etwa wurde die Schuld oft allein am angeblich typisch amerikanischen Finanzkapitalismus festgemacht, der uns in Europa zugrunde richte. Woher kommen solche Deutungsmuster, die teils mit antisemitischen Stereotypen einhergehen?
Zerrbilder in der Zeit der Industrialisierung
Schon seit der sogenannten Entdeckung des Kontinents diente Amerika den Europäern als Projektionsfläche. Viele der Auswanderer – über die Jahrhunderte gingen sieben Millionen Menschen allein aus Deutschland nach Amerika – trieb die Hoffnung auf Freiheit, Gleichheit und Wohlstand an. Die in Europa Verbliebenen, aber auch enttäuschte Heimkehrer entwickelten dagegen eine große Verachtung für die Neue Welt mit ihrer vermeintlich minderwertigen „Unkultur“, dem Kommerz und der demokratischen, liberalen Gesellschaftsordnung, die alles „gleich“ mache. In der Zeit der Industrialisierung und Modernisierung im 19. Jahrhundert gediehen solche Zerrbilder in Europa prächtig. Viele haben bis heute überdauert: Liest man die stereotypen Beschreibungen so mancher Reiseberichte aus jener Zeit, sind die Ähnlichkeiten zu neueren rechtsextremistischen, aber auch vermeintlich kapitalismuskritischen Äußerungen über die USA geradezu verblüffend. Ähnlich wie die Juden im Innern der Gesellschaft wird Amerika seitdem als äußere Macht für abgelehnte oder unverstandene Entwicklungen verantwortlich gemacht – nicht nur in Deutschland, aber hier mit einer besonderen Note.
Der spezifisch deutsche Antiamerikanismus erhielt seine Prägung durch die deutschen Niederlagen in den beiden Weltkriegen. Nach dem Friedensvertrag von Versailles sowie in der Zeit der Besatzung und Kontrolle durch die Alliierten gediehen antiamerikanische Verschwörungsmythen, die durch die NS- wie auch die DDR-Propaganda massiv befeuert wurden. In dieser Zeit wurzelt das Bild von der Bundesrepublik als „Vasall“ der USA, das BSW-Chefin Sahra Wagenknecht so gern bemüht – und das AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel kürzlich in einem Interview noch zuspitzte, als sie die Deutschen „Sklaven“ Amerikas nannte. Es ist der Sound der Reichsbürger vom vermeintlich besetzten Land. Nicht selten sind dabei antisemitische Töne zu vernehmen, wenn von geheimen Mächten und Drahtziehern geraunt wird, die uns angeblich am Gängelband halten und eine „Normalisierung“ der deutschen Geschichte verhindern.
Zu diesem Gefühl gehört auch die Klage, die Amerikaner wollten uns ihre Moralvorstellungen, ihre Kultur, ja ihr Denken aufzwingen. Der Philosoph und Autor Richard David Precht schrieb 2009 im Spiegel, Amerika habe mit Jeans, Jazz und Hollywood weite Teile der Welt „unterwandert“, der „American Way of Life“ sei „die erfolgreichste Massenvernichtungswaffe des 20. Jahrhunderts“.
Das bildungsbürgerliche Ressentiment verschärft sich im Rechtsextremismus zum Hass auf alle liberalen Grundprinzipien, für die die USA historisch immer standen. Die AfD wendet sich gegen alles, was irgendwie „woke“ ist – und etwa der Kampf gegen Diskriminierung auf die Macht des „Regenbogenimperiums“ (Höcke), also auf Amerika zurückgeführt wird.
Es ist kein Zufall, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht angesichts vergleichsweise schwacher Umfragewerte nun massiv die antiamerikanische Karte zieht. Beim Parteitag am 12. Januar forderte die Abgeordnete Sevim Dağdelen unter großem Beifall, die in Deutschland verbliebenen US-Soldaten samt Atomwaffen abzuziehen: „Ami, go home!“, rief sie. Ein Slogan, der schon im Kalten Krieg populär war. Wagenknecht spricht von einer „Blutspur der USA“, die überall auf der Welt Stellvertreterkriege führten, so auch in der Ukraine. Hinter der öffentlich vorgetragenen Moral würden dabei stets nur amerikanische Wirtschaftsinteressen stecken. In Anlehnung an die rechtsextreme Verschwörungserzählung vom „großen Austausch“ macht das BSW die USA gar für den Großteil der Migration nach Europa verantwortlich, weil die Menschen aus Ländern kämen, die Amerika zuvor destabilisiert habe.
Antiamerikanismus als ideologischer Kitt
Dieses Welterklärungsmuster wurde bereits im Zuge der von den USA geführten Kriege nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 populär. Einen Booster erhielt dieses Muster nach der russischen Invasion der Krim 2014 mit den sogenannten Mahnwachen für den Frieden, die von rechtsradikalen Agitatoren wie Jürgen Elsässer und Ken Jebsen im Sinne Russlands angeheizt wurden. In der Coronapandemie fanden Gruppierungen im Querdenkermilieu über antiamerikanische Erzählungen zusammen: Das Virus als „Plandemie“, ausgeheckt von mächtigen Amerikanern wie Bill Gates. In den sozialen Netzwerken gehören derartige Deutungen heute zum Grundrauschen.
So dient Antiamerikanismus als ideologischer Kitt, bis weit in den Mainstream hinein. Laut der renommierten Leipziger Autoritarismus-Studie (PDF) stimmten 2024 rund zwei Drittel der Bevölkerung antiamerikanischen Aussagen mehr oder minder stark zu, auch jenseits der Politik. Etwa, dass die Menschen in den USA „überaus eigennützig und egoistisch“ seien – und die US-amerikanische Kultur „oberflächlich“ sei. Der Politikwissenschaftler Andrei S. Markovits hat den Antiamerikanismus einmal als „Lingua franca“ Westeuropas bezeichnet – als grenzübergreifendes, breit akzeptiertes Verständigungsmittel, das in weiten Kreisen der Bevölkerung geradezu zum guten Ton gehört. Viele halten Antiamerikanismus gar für fortschrittlich, weil er sich gegen eine Weltmacht richtet.
„Verlängerter Arm der Amerikaner“
Wie kaum ein anderes Ressentiment ist das antiamerikanische in der Mitte der Gesellschaft politisch wirkmächtig. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder sich im Wahlkampf 2002 gegen die Irakkriegspläne der USA stellte und einen „deutschen Weg“ propagierte, dürfte er auch antiamerikanische Gefühle einkalkuliert haben. Das Potenzial hatte wohl auch Thüringens CDU-Chef Mario Voigt im Sinn, als er vor den Landtagswahlen im vergangenen Jahr sagte, die Menschen in Ostdeutschland wollten kein „verlängerter Arm der Amerikaner“ mehr sein. Und manche meinen, darauf habe möglicherweise auch Bundeskanzler Olaf Scholz spekuliert, als er überraschend deutlich die Aussagen von US-Präsident Trump zu einer möglichen Einverleibung Grönlands zurückwies.
Nun ist sachliche Kritik an Donald Trump und der US-Politik legitim und teils auch bitter nötig, siehe Grönland. Von Antiamerikanismus sollte man daher nur sprechen, wenn ein Zerrbild gezeichnet wird. Genauer: Wenn es sich um eine Projektion negativer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Vorgänge auf Amerika handelt, die mit einer kollektiven moralischen Selbstaufwertung einhergeht, sodass ein dualistisches Bild entsteht: „Amerika“ gegen „uns“. Oft noch zugespitzt in Form von Verschwörungserzählungen, wonach Amerika die ganze Welt ins Verderben stürzt. Als ob wir nicht auch unsere Orbáns, Melonis, Kickls und Weidels hätten. Oder: Als ob wir die Ukraine nicht im eigenen Interesse unterstützen würden. Es ist erst dieses stereotype Denkmuster, das die Kritik zum Antiamerikanismus gerinnen lässt.
Wettern gegen Trikots von Nike
Und dazu braucht es keinen Trump. Als der Deutsche Fußball-Bund im vergangenen Jahr bekannt gab, dass die Nationalmannschaft bald von Nike ausgestattet werde, wetterte Hessens Ministerpräsident Boris Rhein: „Der Weltmeister trägt Adidas und nicht irgendeine amerikanische Fantasiemarke.“ Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach behauptete, das US-Unternehmen stehe für „Kommerz“, hier werde „eine Tradition und ein Stück Heimat vernichtet“. Der deutsche Sportschuhhersteller als traditionell und schöpferisch, der US-Konzern als künstliche Kommerzmarke: Das ist mit Blick auf die globale kapitalistische Realität nicht nur ziemlicher Unfug – beide Konzerne erwirtschaften einen zweistelligen Milliardenumsatz –, sondern auch ein uraltes antiamerikanisches Bild. Nichts daran ist neu, aber es zieht immer wieder.
Nach dem Machtwechsel in den USA zeigt der Antiamerikanismus zwar so manche Ambivalenz. Doch der verächtliche Blick auf Trump einerseits und die Euphorie andererseits sind kein Widerspruch. Denn die Rechtsextremisten setzen darauf, dass Trump der verhassten liberalen Demokratie amerikanischer Prägung ein Ende setzt und damit auch der autoritären Revolte hierzulande Schwung verleiht, während die anderen ihr Bild vom rüpelhaften Amerika nur bestätigt sehen. Amerika bleibt der große Bruder – Hassobjekt und Projektionsfläche.
Artikel-URL: https://www.zeit.de/kultur/2025-01/antiamerikanismus-usa-ablehnung-bewunderung-deutschland
Erschienen in: Die Zeit, 9.2.2025