Abschottung ist der falsche Weg

Im amerikanischen Wahlkampf ist Migration ein Topthema. Im Gespräch mit der Netzeitung warnt die Chicagoer Soziologin Saskia Sassen davor, Zäune zu bauen. Der Westen sei ohne Migranten gar nicht überlebensfähig.

Netzeitung: Im Vorfeld der Kongresswahlen wird in den USA erbittert über eine Reform des Einwanderungssystems gestritten. Zwölf Millionen Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung leben im Land. Aber auch Europa weiß kaum, wie es mit den Flüchtlingen umgehen soll, die beinahe täglich in Italien und auf den Kanarischen Inseln stranden. Warum haben Amerikaner und Europäer solche Probleme mit diesem Phänomen?

Saskia Sassen: Dafür gibt es drei Gründe. Der erste ist, dass die Einwanderungspolitik nach wie vor so konzipiert ist, als ob der Staat volle Kontrolle über sein Territorium hätte und als ob es so etwas wie Globalisierung nicht geben würde. Zweitens wird die Einwanderungsproblematik unabhängig von anderen politischen Bereichen und geopolitischen Aspekten betrachtet.

Das wiederum führt direkt zum dritten Punkt: Wenn der Staat politische Entscheidungen trifft, mit denen Brücken zu anderen Ländern gebaut werden – zum Beispiel, wenn heimische Unternehmen Fabriken im Ausland ansiedeln – wird den Auswirkungen auf die Migrationsbewegung von diesen Gebieten zu den Geld gebenden Ländern in der Regel nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt.

Netzeitung: Vor kurzem hat das Gesetz zum Bau neuer Grenzzäune an der Grenze zu Mexiko die letzte parlamentarische Hürde genommen: Allein im laufenden Haushaltsjahr sollen für das Projekt 1,2 Milliarden Dollar ausgegeben werden. Auch Europa setzt auf Abschottung und rüstet an den Außengrenzen massiv auf. Ein Schritt in die richtige Richtung?

Sassen: Nein, ganz im Gegenteil. In den USA können wir heute sehen, dass das nicht funktioniert. Die Regierung hat in den frühen neunziger Jahren damit begonnen, die Kontrollen an den Grenzen drastisch zu verschärfen. Die Zahl der Grenzoffiziere wurde von 2.500 auf 12.000 erhöht, die Ausgaben für die Grenzsicherung rapide angehoben. Die US-mexikanische Grenze ist heute die weltweit am stärksten militarisierte Grenze zwischen zwei Staaten, die nicht im Krieg miteinander stehen.

Von den meisten Medien, Politikern und so genannten Experten wird dabei aber übersehen, dass die Aufrüstung mit Kontrolltechnologie keineswegs dazu geführt hat, die Zahl der Grenzübertritte zu verringern. Im Gegenteil, die Zahl der Festnahmen befindet sich auf einem absoluten Tiefstand und die Zahl der Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis im Land ist so hoch wie nie. In den Achtziger Jahren lag die Wahrscheinlichkeit, dass ein Einwanderer ohne Papiere beim Grenzübertritt festgenommen wird, bei 33 Prozent; im Jahr 2000 lag sie nur noch bei zehn Prozent.

Die Verschärfung der Grenzkontrollen hat aber auch die Risiken und Kosten des illegalen Grenzübertritts erhöht. Dies wiederum hat nachhaltige Folgen für den saisonalen Migrationskreislauf. Früher sind viele Arbeiter alleine und nur für kurze Zeit gekommen, heute nehmen sie ihre Familien mit und bleiben für lange Zeit. In den frühen achtziger Jahren kehrte über die Hälfte der illegal ins Land gekommenen Mexikaner innerhalb von zwölf Monaten nach Hause zurück. Im Jahr 2000 lag die Rückkehrrate nur noch bei 25 Prozent.

Die Militarisierung der Grenzen hat also nicht etwa die Wahrscheinlichkeit illegaler Grenzübertritte reduziert, sondern vielmehr die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr ins Heimatland. Das Projekt der Grenzaufrüstung steht im krassen Widerspruch zur Realität im Grenzgebiet.

Netzeitung: Was läuft falsch?

Sassen: Der Ansatz, Einwanderung zu «kontrollieren», ist verfehlt. Migration ist ein vielschichtiger Prozess, und die Politik wird dieser Komplexität nicht gerecht. Was im Hinblick auf die Grenzkontrollen wie ein Misserfolg aussieht, ist absurder Weise oft genau das, was sich bestimmte Industriezweige innerhalb der USA wünschen. Wenn wir eine sinnvolle Einwanderungspolitik wollen, müssen wir damit beginnen, beide Komplexe aufeinander abzustimmen.

Klar ist aber auch, dass das nicht genug ist. Neben der Einwanderungskontrolle und der Reduzierung illegaler Grenzübertritte steht die Frage, wie Einwanderung gestaltet werden kann. Einwanderer werden auch in Zukunft zu uns kommen. Und wir werden sie brauchen: Zum Ende des Jahrhunderts wird die Bevölkerung der USA um schätzungsweise 35 Millionen schrumpfen.

Netzeitung: Was schwebt Ihnen vor, wenn Sie von «Gestaltung» der Einwanderungspolitik sprechen?

Sassen: Wir müssen eine Einwanderungspolitik entwickeln, die alle betroffenen Bereiche umfasst. Dabei geht es auch um soziale Gerechtigkeit und um die Durchsetzung von Menschenrechten. Wir müssen eine demokratische – und nicht nur bürokratische – Form der politischen Zugehörigkeit für Einwanderer schaffen, aber auch für bereits eingebürgerte Migranten und für die Armen in unserer Gesellschaft.

Netzeitung: Sind die einzelnen Nationalstaaten in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung überhaupt noch in der Lage, Einwanderung zu gestalten?

Sassen: Der Staat spielt nach wie vor die wichtigste Rolle bei der Entwicklung und Umsetzung von Einwanderungspolitik. Aber der Staat ist selbst großen Wandlungen unterworfen, etwa durch das Entstehen eines globalen Wirtschaftssystems und andere transnationale Entwicklungen. So sind verschiedene Teile der Staatssouveränität hin zu supranationalen Organisationen wie etwa den Institutionen der Europäischen Union oder der neu geschaffenen Welthandelsorganisation (WTO) verlagert worden.

Auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) spielt eine wachsende Rolle bei der Steuerung von Migrations- und Flüchtlingsströmen, außerdem die OECD und eine ganze Reihe anderer Akteure wie etwa die Banken. Der letztgenannte Bereich ist wichtig, wenn man berücksichtigt, dass die Geldüberweisungen von Migranten in ihre Heimatländer im Jahr 2005 weltweit einen Umfang von 230 Milliarden Dollar erreicht haben.

Ein weiterer entscheidender Aspekt ist, dass die Privatisierung und Deregulierung im öffentlichen Sektor gewissermaßen eine Privatisierung von Regierungsfunktionen nach sich gezogen hat. Diese Privatisierung des Regierens wird sichtbar, wenn man sich die Internationalisierung des Handels und der Investitionen anschaut.

Aktiengesellschaften, Wirtschaftsräume und Freihandelsabkommen «regieren» heute tatsächlich einen nicht unbeträchtlichen Teil der Migrationsbewegungen. Dazu gehört etwa der grenzüberschreitende Fluss von spezialisierten Arbeitern im Rahmen von Handels- und Investitionsabkommen, vor allem bei der WTO und bei regionalen Verträgen wie dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta).

Netzeitung: Hat diese Internationalisierung zu einer anderen Art oder zu einem neuen Ausmaß von Migration geführt?

Sassen: Migration ist viel älter als die gegenwärtige Phase der Globalisierung. Das heißt aber nicht, dass sich nicht in jedem historischen Zeitabschnitt besondere Schlüsselmerkmale der Migration herausbilden würden.

Ich betrachte Migration als etwas, das von größeren Systemen wie Wirtschaft, Politik und Kultur bestimmt wird. Gut sichtbar wird das, wenn man sich die Bedürfnisse der globalen Wirtschaft und die heutige Einwanderungsrealität anschaut. In Bezug auf bestimmte Migrationskanäle hat die Regierung nie Probleme damit gehabt, eine praktikable Politik zu entwickeln.

Das System der Bereitstellung von speziellen Visa für internationale Geschäftsleute und hoch qualifizierte Berufstätige funktioniert beispielsweise ausgezeichnet. Im Rahmen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens werden Mini-Migrationspolitiken umgesetzt, die den grenzüberschreitenden Verkehr und den mehrjährigen Aufenthalt ausländischer Berufstätiger betreffen.

Dies wird heute oft nicht als Migrationspolitik dargestellt, sondern als untergeordneter Aspekt von Bereichen wie Finanzen, Telekommunikation und so weiter. Damit wird aber ein entscheidendes Merkmal der heutigen globalen Wirtschaft verschleiert: Dass grenzüberschreitender Handel und Investitionen mobile Arbeiter erfordern.

Auch bei Niedriglohn-Arbeitern – von Reinigungskräften über Kindermütter bis hin zu Restaurantbeschäftigten – gibt es eine Durchlässigkeit. Viele von ihnen übertreten die Grenzen jeden Tag oder kommen für eine Arbeitswoche. Wenn man diese Art von Migration aus der Sprache der globalen Wirtschaft umkodiert, wird deutlich, dass die Notwendigkeit von Migration in der aktuellen Einwanderungsdebatte völlig unterbelichtet ist.

Netzeitung: Das klingt ganz so, als ob die politischen Akteure die Kontrolle über die Migrationspolitik zugunsten der Wirtschaft verlieren würden.

Sassen: Das würde ich nicht sagen. Die Anzahl und Vielfalt der politischen Akteure, die in Einwanderungsdebatten involviert sind und Politik machen, ist sowohl in Europa als auch in den USA weitaus größer als noch vor zwanzig Jahren: Die Europäische Union, Anti-Einwanderungs-Parteien, große Netzwerke von Organisationen, die Migranten repräsentieren oder das zumindest behaupten und die für Rechte von Einwanderern kämpfen, Politiker mit Migrationshintergrund, meist in der zweiten Generation, und, besonders in den USA, so genannte «ethnic lobbies».

Der Prozess der politischen Entscheidungsfindung ist nicht länger beschränkt auf den engen ministeriellen und administrativen staatlichen Bereich. Die öffentliche Meinung und öffentliche politische Debatten sind Teil des Raums geworden, in dem Einwanderungspolitik gemacht wird.

Diese Entwicklungen sind besonders in der Europäischen Union offensichtlich. Der europäische Binnenmarkt hat Themen auf die Agenda gebracht, die eng mit der Freizügigkeit der Bevölkerung als einem notwenigen Element dieses Marktes verbunden sind. Die EU-Institutionen sind schrittweise immer mehr mit Dingen wie Visa-Politik, Familiennachzug, Einwanderung und sogar mit Integrationspolitik befasst – all das war früher ausschließlich Sache der einzelnen Nationalstaaten.

Netzeitung: Aber es scheint, als ob diese neue europäische Migrationspolitik ausschließlich vom Markt diktiert wird. Die vielen afrikanischen Flüchtlinge etwa, die versuchen, in die «Festung Europa» zu gelangen, haben kaum eine Chance und werden meist gnadenlos in ihre Heimatländer abgeschoben.

Sassen: Die Politik kann in unterschiedliche Richtungen streben – sowohl auf der Ebene der Nationalstaaten als auch auf EU-Ebene, wenn man sich etwa die unterschiedlichen Positionen von Kommission und Europa-Parlament anschaut. Diese Spannungen zwischen verschiedenen Regierungsebenen, Institutionen und Rechtsordnungen mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen von Migration müssen nicht zwangläufig schlecht sein. Oft werden dadurch Spielräume für eine Politik eröffnet, die nicht nur marktgeleitet ist, sondern sich auch stärker an Menschenrechten orientiert.

Netzeitung: Die Gegner einer liberaleren Einwanderungspolitik beharren allerdings darauf, dass wir keine Einwanderer mehr aufnehmen können, weil die Arbeitslosigkeit so hoch sei.

Sassen: Wenn man sich die europäische Wirtschaft genau anschaut, wird deutlich, dass eine große Anzahl von Arbeitern benötigt wird, die bereit sind, Niedriglohn-Jobs anzunehmen. Außerdem zeigt ein Blick auf die europäische Bevölkerungsentwicklung, dass wir deutlich mehr Einwanderung brauchen, wenn wir dem prognostizierten Bevölkerungsschwund von 350 Millionen auf 287 Millionen zum Ende dieses Jahrhunderts entgegenwirken wollen und all dem, was damit zusammenhängt: Wegfallenden Steuereinnahmen etwa und Rentenzahlungen – in einem Europa, in dem die Bevölkerungsmehrheit über 65 Jahre alt sein wird.

Einer der Hauptgründe für die starke Migration aus ärmeren Ländern ist das große und immer noch wachsende Angebot an Niedriglohn-Jobs in unseren hoch entwickelten Gesellschaften, die von den Einheimischen ungern angenommen werden, weil sie höhere Ansprüche an einen Job stellen. In unseren heutigen Ökonomien wird das nur allzu deutlich, und die USA sind Beispiel Nummer 1 für diese Entwicklung.

Netzeitung: Aber das muss nicht zwangsläufig schlecht sein. Gerade in den USA hatten Einwanderer doch immer eine realistische Chance, gesellschaftlich aufzusteigen – vom Tellerwäscher zum Millionär…

Sassen: Verglichen mit dem Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es heute zwei große Unterschiede, die sich Schritt für Schritt seit den achtziger Jahren herausgebildet haben. Zum einen gibt es das rapide Job-Wachstum in arbeitsintensiven Servicebereichen mit Niedriglöhnen, das ich eben angesprochen habe: Reinigungskräfte, Kinder- und Altenpfleger, Verkäufer, Kellner und Taxifahrer.

Zum anderen aber stellt der Großteil dieser Niedriglohnjobs heute nicht mehr die erste Stufe auf einer Leiter mit Aufstiegschancen dar. Die Leute befinden sich meist in einer Sackgasse. In der Nachkriegszeit gab es Verbindungen von einer Ebene zur nächsten. Heute sind diese Verbindungen größtenteils gekappt.

Im Gegensatz zu den hoch qualifizierten Jobs, bei denen mehr Bildung und Arbeitserfahrung in der Regel zu Gehaltsverbesserungen und Beförderungen führen, ist das bei einem wachsenden Teil der Niedriglohnjobs nur minimal oder überhaupt nicht der Fall – egal, wie hart jemand arbeitet oder wie viel zusätzliche Bildung er erwirbt.

Netzeitung: Wird dieses System jemals wieder durchlässiger?

Sassen: Es ist eine zentrale Frage, wie wir die Niedriglohnjobs so verbessern können, dass sie attraktiver werden. Damit würde man diese Jobs auch wieder interessanter für die einheimische Bevölkerung machen. Es ist aber kaum vorstellbar, dass Einwanderung nicht Teil der Lösung sein wird. Einwanderung ist in vielerlei Hinsicht die einfachste, schnellste und oft auch preiswerteste Alternative.

Netzeitung: In der aktuellen europäischen Einwanderungsdebatte werden vor allem die Probleme beklagt, die wir mit schlecht integrierten Migranten haben, zum Beispiel in Frankreich. Viele Menschen sind nicht gewillt, mehr Einwanderung zuzulassen.

Sassen: Ein Teil der Schwierigkeiten, die das Alte Europa hat, liegen ironischerweise in der mangelnden historischen Perspektive begründet. Europa hat eine kaum bekannte, Jahrhunderte alte Geschichte interner Arbeitsmigration. Als Amsterdam im 18. Jahrhundert seine Polder baute und die Sümpfe trockenlegte, wurden norddeutsche Arbeiter zu Hilfe geholt.

Als Haussmann im 19. Jahrhundert Paris modernisierte, warb er Deutsche und Belgier an. Und als Deutschland mit dem Bau seiner Eisenbahn und der Stahlwerke begann, kamen Italiener und Polen ins Land. Zu jeder Zeit hat es bedeutende und vielfältige innereuropäische Migrationsbewegungen gegeben.

Die betreffenden Arbeiter wurden bei ihrer Ankunft immer zuerst als Bedrohung, als Außenseiter und unerwünschte Personen wahrgenommen, die niemals Teil der Gesellschaft werden können – obwohl sie oft sogar dem gleichen Kulturkreis oder der gleichen Religionsgemeinschaft angehörten. Aber sie sind ein Teil des komplexen und heterogenen «Wir» unserer hoch entwickelten Gesellschaften geworden, selbst wenn sie sich ihre Besonderheiten stellenweise erhalten haben und obgleich dieser Prozess meist zwei, oft sogar drei Generationen gedauert hat.

Netzeitung: Die gegenwärtige Angst vor dem radikalen Islamismus lässt sich damit aber kaum entkräften…

Sassen: Wir haben es heute mit verschiedenen Religionen und Kulturen zu tun und denken, das sei der Grund für die Schwierigkeiten bei der Integration. Dabei zeigt unsere ureigenste europäische Geschichte, dass wir ähnliche Empfindungen schon gegenüber denjenigen hatten, die aus der heutigen Perspektive zu uns gehören. Es würde mich sehr wundern, wenn die, die wir heute als so anders und schwer integrierbar wahrnehmen, nicht in einigen Generationen dieselben Wandlungen durchmachen würden.

Netzeitung: Lässt sich in der gegenwärtigen Phase der Verunsicherung durch weltweite Konflikte und wirtschaftliche Umwälzungen schon absehen, wie sich die globale Migration weiter entwickeln wird?

Sassen: Die Geschichte der Migration hat im Grunde genommen eigentlich immer aus zwei Geschichten bestanden: Aus der Geschichte der Arbeit und der Geschichte der Integration von ausländischen Arbeitern in die Gesellschaft. Heute hat die Migration die Grenzen zwischen diesen beiden Geschichten gesprengt. Daher wird sie von vielen Menschen als Zumutung empfunden.

Diese Vorstellung von Migration als Zumutung wird durch viele verschiedene Dinge genährt: Zum Beispiel durch die explizite Loyalität junger Algerier in Frankreich zum Islam, aber auch durch den großen Einfluss, den mexikanische Einwanderer in den USA auf die wirtschaftliche Entwicklung in Mexiko haben. Ich würde auch die sich neu entwickelnde Kultur dazuzählen, die auf der Idee einer neuen transnationalen Identität beruht.

Die Vorstellung von nationaler Gemeinschaft wird stellenweise dekonstruiert und macht einem transnationalen Begriff von Bürgerschaft und gesellschaftlicher Zugehörigkeit Platz. Es gibt eine ganze Reihe von Dynamiken, die durch Migration befördert werden, besonders im Rahmen größerer Städte und der Durchmischung, die dort stattfindet.

Netzeitung: Denken Sie, dass die weltweiten Migrationsbewegungen irgendwann in einer Auflösung der Nationalstaaten resultieren und so etwas wie eine «transnationale Gesellschaft» entsteht?

Sassen: Die heutige Migration findet im Rahmen einer viel größeren Entwicklung statt: Der Destabilisierung zentrierter Hierarchien von Gesetzesmacht und nationalstaatlicher Zugehörigkeit. Diese Entwicklung hat Raum für informelle politische Dynamiken und Akteure geschaffen. Ich würde sagen, dass Migranten eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielen.

Schließlich handelt es sich dabei in gewisser Weise um denationalisierte Bürger, bei denen man oft nicht eindeutig sagen kann, zu welchem Land sie gehören – dem ihrer Herkunft oder dem, in dem sie leben. Oder sind sie Bürger beider Länder?

Migranten gehören zusammen mit den «traditionellen» Bürgern, die zunehmend transnational sein wollen, zu einem neuen Typus politischer Akteure. Sie können die Entwicklung neuer politischer und rechtlicher Instrumente anstoßen, die den Standpunkt aller Individuen gegenüber dem Staat stärken. Genau so hat Einwanderung schon in den letzten zwei Jahrhunderten oft funktioniert.

Tobias Jaecker sprach mit Saskia Sassen in Chicago.

Demnächst auch in deutscher Sprache im Suhrkamp-Verlag: Saskia Sassen, Territory, Authority, Rights, Princeton University Press, 2006

Artikel-URL: http://www.netzeitung.de/voiceofgermany/451266.html

Erschienen in: Netzeitung, 7.11.2006