Mit dem Baukasten zum Job

Weiterbildung: Lebenslanges Lernen hat in Deutschland faktisch noch wenig Stellenwert. Kurse im Modulsystem sollen nun den Anforderungen des Einzelnen wie des Arbeitsmarkts gerechter werden

Von Tobias Jaecker 

Katzenjammer. Der Boom der vergangenen Jahre ist passé. Auf dem Arbeitsmarkt macht sich das als erstes bemerkbar. 3,7 Millionen Menschen suchen zur Zeit in Deutschland laut amtlicher Statistik einen Job. Wer eine Berufsausbildung in der Tasche hat, ist noch recht gut dran. Fehlt der Abschluss dagegen, sind die Aussichten schlecht. Und da für die nächsten 20 Jahre davon ausgegangen wird, dass 40 Prozent der niedrig qualifizierten Arbeitsplätze wegfallen werden, heißt das arbeitsmarktpolitische Stichwort heute umso mehr Weiterbildung. Vorreiterin hier sind Frankreich und Skandinavien, die seit einigen Jahren modulares Lernen praktizieren. Auch in Deutschland gibt es dafür nun ein Pilotprojekt.

Oliver Drake hatte noch Glück. Ende 1999 gelang es ihm, sich an den Erfolgszug der New Economy zu hängen – als Ungelernter. Drake bekam einen Job an der Service-Hotline des Berliner Internet-Dienstleisters Strato. Jetzt holt er einen Abschluss als IT-Systemkaufmann nach. Neben der Arbeit, in seiner Freizeit.

Eigentlich sei er ein „Universaldilettant“, erzählt der 31-Jährige und lacht. Nach dem Realschulabschluss kamen viele Anläufe, alle ohne Erfolg. Die Tischlerlehre endete am letzten Probetag mit dem Rauswurf. Die Lehre zum Landschaftsgärtner schmiss er selbst, ebenso die Erzieher-Ausbildung. Der Westberliner jobbte auf dem Bau und in einem Elektroladen. Dann glaubte er, seinen Traumjob gefunden zu haben: Dreieinhalb Jahre lang arbeitete er als Krankenpfleger. Doch in diesem Bereich fand er keinen Ausbildungsplatz. „Nach dreihundert Bewerbungen hatte ich die Schnauze voll.“ Drake fiel in ein tiefes Loch, wurde arbeitslos.

Ein volles Jahr währte dieser Zustand. In dieser Zeit bastelte Oliver Drake viel zu Hause am Computer, schrieb Programme und baute Netzwerke. Das Hobby wurde ihm zur Rettung. Als Strato eine Stelle ausschrieb, bewarb sich Drake auf gut Glück – und bekam den Job. Nach einem halben Jahr wechselte er in die Beschwerde-Abteilung. Und kam irgendwann zu der Erkenntnis, dass ein Berufsabschluss wohl doch nicht das Schlechteste wäre. „Im Alter bringt einem der einfach mehr Sicherheit“, sagt Drake heute.

In der Tat: Wer einmal ohne Abschluss auf der Straße sitzt, hat meist keine Chance mehr. Unter den Arbeitslosen ist der Anteil Ungelernter mit 38 Prozent besonders hoch. Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, startete der Berliner Bildungsträger BBJ vor eineinhalb Jahren ein Modellprojekt, bei dem auch Oliver Drake unterkam. In Lohn und Brot stehende Beschäftigte können sich hier unter Berücksichtigung ihrer beruflichen Vorerfahrung „modular qualifizieren“.

„Wir schauen zunächst, welche Kenntnisse die Leute bereits haben“, erläutert Projektleiter Joachim Dellbrück. Dann wird ein Qualifizierungsplan mit mehreren Modulen erstellt, den der Auszubildende abarbeiten muss. Zusätzlich, neben dem „normalen“ Job. Die Kosten, rund 5.000 Mark, werden zu 80 Prozent vom EU-Sozialfonds und vom Berliner Senat getragen, den Rest zahlt der Auszubildende oder dessen Arbeitgeber. „Einzige Bedingung sind drei Jahre Berufserfahrung“, so Dellbrück. „Wieviel Zeit der Bewerber bis zur Prüfung braucht, ist egal.“

In einem früheren Durchlauf wurden bereits Arzt- und Zahnarzthelferinnen zum Berufsabschluss geführt. Die Erfolgsquote: 70 Prozent. Das Nachfolgeprojekt wurde nun zu einem größeren Netzwerk unterschiedlich ausgerichteter Bildungsträger ausgebaut. Durch die Erweiterung des Angebots können jetzt mehrere Module gleichzeitig angeboten werden. Neben IT-Systemkaufleuten können sich auch Veranstaltungstechniker, Mediengestalter, Tischler und Altenpfleger qualifizieren. Das Modularisierungs-Netzwerk umfasst mittlerweile 25 Mitglieder, neben privaten Bildungsträgern auch Volkshochschulen, die TÜV-Akademie und eine Unternehmensberatung. Rund 100 Beschäftigte aus 80 Betrieben nehmen zurzeit an dem Projekt teil.

Für die Auszubildenden ist der Stress groß – obwohl sie die Module in fast beliebiger Zeit absolvieren können. Oliver Drake wird von seinem Arbeitgeber zwar vier Stunden pro Woche freigestellt. Dafür muss er jedoch zwei Mal zur Abendschule, und die liegt am anderen Ende der Stadt. Sechs Bildungsmodule muss er bewältigen. Die beinhalten zum Beispiel die Funktionsweise von Systemprogrammen, aber auch Fachenglisch, Marketing und Auftragspräsentation. Büffeln muss Drake auch am Wochenende: „Da bleibt nicht mehr viel Zeit“, sagt er. Doch Drake sieht vor allem die Vorteile. Sein Wissen sei bislang völlig ungeordnet gewesen. Das werde sich jetzt ändern. Und schließlich könne er seine Qualifikation nach der Prüfung endlich auch nachweisen. „Das ist eine klare Sicherheit für härtere Zeiten.“

Ob sich die modulare berufsbegleitende Ausbildung etablieren wird, ist bislang unklar. „Der Ansatz ist auf jeden Fall positiv“, sagt Peter Faulstich, Professor für Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Uni Hamburg. Die Hürden seien relativ niedrig. Jugendlichen werde so die Möglichkeit gegeben, ihre Fähigkeiten auch ohne die üblichen drei Lehrjahre nachzuweisen. „Mindeststandards müssen aber eingehalten werden“, sagt Faulstich. Ausbildungsgänge dürften nicht so ohne weiteres zerlegt werden. Modularisierungsmodelle könnten das duale Ausbildungssystem allenfalls ergänzen, nicht aber ersetzen. Faulstich: „Eine grundlegende Qualifikation ist nach wie vor sehr wichtig.“

Joachim Dellbrück hofft dennoch auf die Übernahme des Projekts in den Regelbetrieb. „In Frankreich ist die modulare berufsbegleitende Qualifizierung bereits ein reguläres Segment im Ausbildungsmarkt“, so Dellbrück. Die Nachfrage sei auch hierzulande groß. Lebenslanges Lernen müsse endlich den Stellenwert bekommen, den es faktisch bereits habe. Das Modell ließe sich problemlos auch auf andere Bereiche übertragen. Für Beschäftigte, die in der Praxis bereits Kompetenzen erworben hätten, sei es „einfach billiger und effizienter“. Möglicherweise könnten auch Freiberufler ihren Abschluss in Zukunft nebenher machen. Oder Arbeitslose, die zeitgleich Praktika absolvieren. Aber das ist noch Zukunftsmusik.

Die berufliche Zukunft von Oliver Drake scheint mit der nachgeholten Berufsausbildung jedenfalls gesichert zu sein. „Als IT-Systemkaufmann bin ich in der Computerbranche gut einsetzbar – so eine Art Mädchen für alles“, so Drake. Bis zur Prüfung im Mai nächsten Jahres sei jedoch noch viel zu tun: „Da wird noch so manches Wochenende bei draufgehen“.

Erschienen in: Freitag, 6.7.2001