Gesucht: Onlinehändler

Die E-Commerce-Branche boomt in Berlin. Gefragt ist Expertenwissen, doch wer bildet das Personal aus? An der Hochschule der Künste entsteht ein neuer Studiengang

Von Tobias Jaecker

Am Anfang war die Idee: Eine Internetplattform, auf der die User ihre Meinung zum Besten geben sollten: über die letzte Pauschalreise, über das neue Handy, über die Kneipenszene der Stadt. Testberichte vom und für den Verbraucher. Und die Wirtschaft, so dachte man sich, würde im Gegenzug zahlen. Für die Produktwerbung. Und für die Verbesserungsvorschläge der Kunden. Ob der Surfer vor dem Bildschirm so etwas annehmen würde?

Es scheint ganz so. Kaum acht Monate sind vergangen, und das Geschäft brummt beim Berliner Startup-Unternehmen dooyoo.de. „Der Anlauf war nicht einfach“, sagt Mitbegründer Michael Kalkowski. Fachkräfte waren kaum zu bekommen. Die ersten Mitarbeiter wurden im Bekanntenkreis gewonnen. Inzwischen arbeiten 55 Personen bei dooyoo.de. „Die haben völlig unterschiedliche Qualifikationen“, erläutert der 26-jährige Kalkowski. Ideal seien zwar Vorkenntnisse in Betriebswirtschaft, Informatik oder Jura. „Starre Anforderungsprofile gibt es aber nicht – schließlich lernen wir alle täglich dazu.“

Das liegt in der Natur der Sache. Denn die kommerzielle Nutzung des Internets, kurz E-Commerce genannt, steckt noch in den Kinderschuhen. Zwar ist vom Buch bis zur Aktie bereits jedes erdenkliche Produkt im Netz zu bekommen. Mit Onlineauktionen oder Meinungsplattformen à la dooyoo.de haben sich neue Geschäftszweige dazugesellt. 13 Milliarden Mark wurden laut einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in den letzten zwölf Monaten im deutschen Onlinehandel umgesetzt. Doch eine maßgeschneiderte Ausbildung gibt es nicht.

Noch nicht. An der Berliner Hochschule der Künste (HdK) wird ab kommendem Wintersemester der bundesweit erste Studiengang „Electronic Business“ angeboten. Interessierte Unternehmen wollen das Vorhaben mit jährlich 600.000 Mark unterstützen. „Die Anforderungen beim E-Commerce gehen weit über technisches und wirtschaftliches Wissen hinaus“, sagt Studiengangkoordinator Carsten Busch. Gestalterische Fähigkeiten seien mindestens ebenso wichtig. „Schließlich geht es um die Frage, ob sich der Verbraucher von einer Internetseite angesprochen fühlt oder weiterklickt.“ An der HdK will man die verschiedenen Fachrichtungen nun zusammenführen. „Der Wirtschaftsprozess muss zunächst gut durchdacht und konzeptioniert werden“, so Busch. „Und dann geht es an die visuelle Umsetzung.“

Zurzeit rekrutieren die jungen Internetunternehmen ihr Personal noch in erster Linie an den Informatikinstituten. Wer dort das Vordiplom in der Tasche hat, kann sich den Job fast schon aussuchen. Auch dooyoo.de wendet sich gezielt an Studenten – mit Aushängen oder Schnupper-Workshops. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass selbst unter den Geisteswissenschaftlern gute Leute zu finden sind“, so Michael Kalkowski.

Auch die kommerziellen Weiterbildungsinstitute haben sich auf den Personalnotstand bereits eingestellt und bieten eine Vielzahl an Qualifizierungsmöglichkeiten. Vom Javaarchitekten über den Qualitätsmanager bis hin zum System- und Workflow-Berater reicht die phantasievoll klingende Angebotspalette. Doch Vorsicht: Die Nachfrage nach Bewerbern aus beruflichen Weiterbildungen ist eher gering, wie das Berliner Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik in einer Unternehmensbefragung herausgefunden hat. Beliebter sind Hochschulabsolventen mit Expertenwissen.

Ausschlaggebend ist dabei nicht nur die vielfach bemängelte Qualität der Bildungsangebote. Die Branche hat auch eine Vorliebe für besonders junge Fachkräfte. Ältere Beschäftigte gelten als unflexibel und sind oft nicht bereit, das in der Szene verlangte hohe Maß an Selbstausbeutung mitzutragen. Festanstellungen sind eher die Ausnahme, Arbeitszeiten von zwölf Stunden keine Seltenheit. Im Gegenzug winken flache Hierarchien sowie Gewinn- und Aktienbeteiligungen. Und das Feeling, dabei zu sein bei der Internetrevolution.

In Berlin ist die Gründeratmosphäre besonders stark ausgeprägt. „Die Mieten sind billiger, und man findet verhältnismäßig viele gute Leute“, beschreibt Michael Kalkowski die Vorteile der Hauptstadt. „Außerdem herrscht noch Aufbruchstimmung in der Szene.“

Die rund 580 Berliner Internetfirmen machen jedoch nur die eine Hälfte des Booms aus. Denn viele Traditionsunternehmen haben sich ebenfalls ins Netz gewagt. Zum Beispiel das Nobel-Kaufhaus KaDeWe. Wer sich die Fahrt zum Kudamm ersparen möchte, findet Präsentkörbe oder edlen Champagner auch unter www.kadewe.de. „Wir bieten ausschließlich Produkte an, die man woanders im Netz nicht so ohne weiteres bekommt“, sagt Matthias Grabitz, Koordinator der E-Commerce-Aktivitäten beim KaDeWe.

Vier Mitarbeiter kümmern sich um den Bereich Online-Shopping. „Das sind Kaufleute und Betriebswirte mit grundlegenden Kenntnissen über das Internet und E-Commerce“, so Matthias Grabitz. Den technischen Teil des Onlineauftritts erledigt eine Agentur. Das Content-Management, die Präsentation der Inhalte also, wird vom KaDeWe selbst besorgt. Ebenso der Postversand. „Mittlerweile bekommen wir sogar Anfragen aus den USA“, erzählt Grabitz. „Unsere Mitarbeiter benötigen deshalb gute Fremdsprachenkenntnisse.“

So manches Unternehmen hat den Gang ins Netz noch vor sich. In der Berliner Internetbranche sollen in diesem Jahr rund 1.100 zusätzliche Jobs entstehen – bei vorsichtiger Schätzung.

Wie viele Firmen sich des E-Commerce bedienen, ist kaum herauszufinden. „Über die Zahlen kann man nur spekulieren“, meint Rainer Bohnert vom Kompetenzzentrum eComm Berlin-Brandenburg. Ein Unternehmen betreibe schließlich bereits E-Commerce, wenn es seine Lieferantenaufträge per E-Mail abwickle. Da sei die Abgrenzung schwierig und eine Beschäftigtenzahl kaum zu ermitteln. Nur so viel weiß man: „Etwa die Hälfte der 110.000 Berliner Unternehmen hat Internetzugang“, so Bohnert. „Wie das im Einzelnen genutzt wird, das sind aber zwei oder drei verschiedene Paar Schuhe.“

Erschienen in: taz, 19.5.2000